Vatermord und andere Familienvergnuegen
versuchst, dir deinen Weg in die Welt zu bahnen, fahren sie die Krallen aus.
Es waren natürlich nur die Erwachsenen; die Kinder hielten es nicht aus, mit mir in einem Raum zu sein. Daraus lernte ich etwas, das man sich merken sollte: Gesunde und Kranke sind nie auf gleicher Augenhöhe, soviel sie auch sonst gemeinsam haben mögen.
Offenbar wurde die alte Frau genauso behelligt. Wie ich hörte, standen die Leute dicht gedrängt um ihr Bett und starrten auf die Uhr. Es erschien mir rätselhaft, was daran so interessant sein sollte. Später erfuhr ich, dass man Wetten abgeschlossen hatte. Favoritin war die alte Frau. Ich war der Außenseiter. Es stand hundert zu eins gegen mich. Kaum einer setzte auf mich. Ich glaube, niemand mochte auf den Tod eines Kindes spekulieren, nicht einmal bei diesem morbiden Ratespiel Wer stirbt zuerst?. Ganz wohl war dabei keinem.
»Er ist tot! Er ist tot!«, hörte ich eines Nachmittags eine Stimme rufen. Ich tastete nach meinem Puls. Er schlug noch. Ich zog mich hoch und schrie durchs geöffnete Fenster zum alten George Buckley hinüber, unserem nächsten Nachbarn.
»Wer? Wer ist tot?«
»Frank Williams! Er ist vom Dach gefallen!«
Frank Williams. Er wohnte vier Häuser weiter. Von meinem Fenster aus konnte ich beobachten, wie die ganze Stadt zu seinem Haus rannte, um zu gaffen. Ich wollte das auch. Ich arbeitete mich aus meinem Bett und robbte wie eine glitschige Schnecke über den Boden meines Schlafzimmers, in die Diele und zur Haustür hinaus ins blendende Sonnenlicht. Die Schlafanzughose dabei anzubehalten, war ein Problem, aber das ist ja fast immer eines. Während ich mich durch den stoppeligen Rasen wand, dachte ich über Frank Williams nach, den nachnominierten Teilnehmer und Überraschungssieger unseres kleinen Wettbewerbes. Vater von vier Kindern. Oder waren es fünf? Alles Jungen. Ständig war er dabei, seinen Söhnen das Fahrradfahren beizubringen. Andauernd wackelte einer von ihnen mit panisch verzerrter Miene unter meinem Fenster vorbei. Ich hatte die Williams-Jungs immer dick gehabt, weil sie so langsam lernten. Jetzt taten sie mir leid. Es ist nicht schön, einen Elternteil durch Tollpatschigkeit zu verlieren. Ihr ganzes Leben lang würden diese Jungen nun sagen müssen: »Ja. Mein Vater ist vom Dach gefallen. Hat das Gleichgewicht verloren. Wie bitte? Was er da oben wollte? Ist doch egal.« Arme Kinder. Die Regenrinne sauber zu machen ist nichts, wofür ein Mann sterben sollte. Das ist kein rühmliches Ende.
Die neugierige Meute, die sich über den Toten beugte, nahm keine Notiz von dem kranken kleinen Wurm, der auf sie zukroch. Ich zwängte mich durch die Beine von Bruce Davies, unserem Metzger. Er guckte genau in dem Moment nach unten, in dem ich nach oben guckte. Unsere Blicke trafen sich. Ich fand, jemand sollte ihn auffordern, Abstand zu halten von den leblosen Überresten unseres Nachbarn. Das Glitzern im Auge dieses Metzgers gefiel mir gar nicht.
Ich schaute genauer hin. Frank hatte sich das Genick gebrochen. Sein Kopf war nach hinten in eine Lache von dunklem Blut gerollt und hing ihm über die Schultern. Wenn so ein Genick bricht, bricht es richtig. Ich schaute genauer hin. Seine Augen waren weit geöffnet, aber hinter ihnen war nichts, nur eine bestürzende Leere. Ich dachte: Bald geht's mir auch so. Das Nichts wird mich umfangen, wie es ihn umfangen hat. Wegen dieses Wettbewerbs und meiner eigenen Rolle dabei empfand ich diesen Tod nicht nur als eine Vorschau auf den meinen, sondern auch als ein Echo. Frank und ich steckten gemeinsam in dieser Sache, für alle Ewigkeiten aneinandergekettet in einer makabren Verbindung - Deadlock nenne ich es heute, die Affinität der Lebenden zu den Toten. Die hat nicht jeder. Entweder man spürt sie, oder eben nicht. Ich spürte sie damals wie heute. Es sitzt tief in meinen Poren: dieses heilige, tückische Band. Ich spüre es, sie warten darauf, dass ich mich zu ihnen geselle, in den heiligen Stand des Deadlock.
Ich legte meinen Kopf in Franks Schoß, schloss die Augen und ließ mich von den Stimmen der Umstehenden in den Schlaf wiegen.
»Armer Frank«, sagte einer.
»Er hatte ein langes, erfülltes Leben.«
»Was hat er denn da oben auf dem Dach gewollt?«
»Er war zweiundvierzig.«
»Ist das nicht meine Leiter?«
»Zweiundvierzig ist doch nicht alt. Er hatte kein langes, erfülltes Leben. Einen Scheiß hatte er.«
»Ich werde nächste Woche vierundvierzig.« »Was machen Sie denn da?« »He, Finger
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