Venit. Die Akte Veden: Thriller (Filii Iani-Trilogie) (German Edition)
weiterhin vehement zurück. Obgleich er sich selbst gegenüber zugeben musste, dass es nicht gänzlich von der Hand zu weisen war. Nun, aber das war natürlich nicht alles.
Wenn er daran dachte, wie konsterniert der junge Mann in diesem Salon vor ihm gesessen hatte, wie unruhig die eiskalten blaugrauen Augen hin und her gewandert waren und wie er dagegen so eintönig und trocken seine private Horrorgeschichte ausgebreitet hatte, überkam Pfeifer jedes Mal aufs Neue ein Schaudern.
Als Kriminalist war Pfeifer natürlich unversehens die Divergenz zwischen Gebaren und Gesagtem aufgefallen. Als Mensch war er zutiefst erschüttert gewesen.
Zu jenem Zeitpunkt war Pfeifer selbst noch ein vergleichsweise junger Mann Mitte Vierzig gewesen, trotzdem verfügte er über genügend Berufserfahrung, um die richtige Technik anzuwenden: Er schenkte dem Fünfzehnjährigen einen doppelten Scotch ein und gab ihm eine Zigarette. Es dauerte keine fünfzehn Minuten, dann hatte der Alkohol das gefrorene Meer in seinem Gegenüber aufgebrochen: Das Kind weinte markerschütternd und sehr lange.
Pfeifer seufzte. Seine Augen folgten den Pinselstrichen, die unübersehbar eine Hommage an Gustave Courbet waren. Selbst einem Kunstbanausen musste dies auffallen. Deutlich trat diese Gegebenheit an der realitätsnahen Wiedergabe des Speeres zutage, der inmitten der Brust König Laios steckte; eine sehr blutige Angelegenheit, die in keiner Weise idealisiert worden war. Dennoch: Die Lichtverhältnisse (ein erneuter Tribut, diesmal an den österreichischen Maler Ferdinand Georg Waldmüller), die sich einzig auf einen schmalen Streifen einfallenden Sonnenlichts reduzierten, nahmen sich gewissermaßen wie ein Spot aus, der direkt auf den Akt der Tötung gelegt war. Die Botschaft war augenfällig.
Pfeifers Gedanken schweiften zurück zu jenem Treffen.
»Haben Sie mich absichtlich mithilfe des Alkohols und Nikotins zu diesem ärgerlichen Gefühlsausbruch getrieben?«, hatte der zornige Jüngling ihn damals gefragt. Und er hatte lächelnd geantwortet: »Goethe sagt: Wo viel Licht ist, ist starker Schatten . Den Schatten hast du mir verdeutlicht. Ich wollte mich nur vergewissern, dass es auch Licht gibt.«
Waldmüllers Lichtverhältnisse: gefundenes Fressen für den Jüngling, wie wahr.
Der Doktor ließ die kupferfarbene Flüssigkeit erneut sachte kreisen, ehe er einen weiteren Schluck trank.
Nun, sein Zögling mochte nicht viele Freunde haben, doch Pfeifer zählte sich zu diesen. Selten traf man solch befremdendende und zugleich faszinierende Menschen wie ihn, und dass er über einen außerordentlichen Intellekt verfügte, stand außer Frage.
Sein Instinkt hatte Pfeifer damals gesagt, dass dort ein Jüngling saß, der sich auf Messers Schneide befand: Kippte er zur einen Seite hin ab, würde ein großer Krimineller aus ihm, der von sich hören lassen würde – kippte er zur anderen Seite, würde er im Dienste der Menschheit zum Positiven hin agieren. Es war ihm buchstäblich nichts anderes übrig geblieben, als sich dem Jüngling zuzuwenden und ihn in die richtigen Bahnen zu lenken.
Pfeifer zog Atem ein und richtete sich im Sitzen auf. Er schwelgte in Erinnerungen wie ein seniler alter Mann! Schon wieder! Nun, alt war er inzwischen sicherlich, aber senil bestimmt nicht.
Schmunzelnd stellte er den Whiskyschwenker auf dem Tischchen ab und nahm das iPad auf. Über den Touchscreen rief er die E-Mails ab und stellte zufrieden fest, dass seine Leute gute Arbeit geleistet hatten. Die digitale Akte, die sein Zögling erbeten hatte, umfasste mehrere Seiten. Wie üblich ließ Anselm Pfeifer als Mitglied der Führungsriege der Filii Iani-Vereinigung und des Bundeskriminalamtes es sich nicht nehmen, einen Blick in die streng geheimen Dokumente zu werfen.
Während das Orchesterwerk Bruckners (eine Aufnahme mit den Wiener Philharmonikern unter dem Dirigenten Wilhelm Furtwängler) sein Ende fand, saß Doktor Anselm Pfeifer konzentriert und mit zusammengezogenen Augenbrauen in seinem Ohrensessel, die Brille ruhte auf der Nasenspitze und das dichte weiße Haar stand über den Ohren etwas ab. Die Lektüre entpuppte sich als äußerst spannend, und erst, als er über die Hälfte hinaus war, hob er kurz den Kopf, um vom Scotch zu trinken.
Aus Gewohnheit tastete er mit der Zunge den Geschmack in der Mundhöhle ausgiebig ab, indes seine Augen zur Kopfzeile auf dem Dokument huschten. Er rief sich noch einmal den Namen desjenigen in Erinnerung, über den er gerade all
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