Venit. Die Akte Veden: Thriller (Filii Iani-Trilogie) (German Edition)
versengen. Er konnte aber weder die Arme hochreißen noch zusammenhängend denken. Seine eigene Stimme brüllte ihn weiterhin an, schrie und vermischte sich mit einer fremden Stimme. Jemand schien ihn zu schütteln, und doch konnte er durch das Licht und die Dunkelheit, einer Weißdecke und dem dunklen Himmel niemanden erkennen.
Doch! Da war dieses Gesicht. Dieses Gesicht, das er hier, in diesem Hinterhof – an dieser Weißdecke? – zum ersten Mal erblickt hatte.
Diese tiefdunklen Augen, die ihn von unten nach oben musterten, um schließlich eisig auf ihm liegen zu bleiben, als würden sie nur eine Frage stellen.
Diese markanten Gesichtszüge, weich in ihrer Natürlichkeit und doch gezeichnet von einem erbarmungslosen Leben, die ebenfalls nur diese eine Frage stellten.
Diese dünnen, wunderschön geschwungenen Lippen, die, wenn sie lächelten, Grübchen in die Wangen malten, diese Lippen, die letztlich die Frage des ganzen Gesichtes aussprachen: »Wer, zum Teufel, ist denn der Kerl da?«
Chest verlor das Bewusstsein.
13
Sanftes Licht liebkoste das Gemälde. Der rötliche Glanz des Feuers im offenen Kamin hingegen kam nicht gegen die künstliche Quelle an; zum Vorteil des Gemäldes, wie Anselm Pfeifer, Doktor des Kriminalvollzugsdienstes (mit summa cum laude abgeschlossen, worauf er selbst nach all den Jahrzehnten im Dienst des Landes noch stolz war) wusste. Die absorbierende Düsternis, die vom Kunstwerk ausging, drohte auch den Betrachter zu vertilgen. Ein Kaminfeuer wäre dem nie gewachsen.
Er nippte am Scotch – einem der teuersten Blended Scotch Whiskys, die er in seiner Sammlung zu verzeichnen hatte – und versank tiefer im weichen Leder des Ohrensessels. Während er den Scotch auf der Zunge zergehen ließ und die unverwechselbare Note in sich aufnahm, erreichte Bruckners Romantische die Paukenschläge im ersten Satz. Die Musik umtoste ihn.
Seine Augen ruhten weiterhin auf dem Gemälde. In der linken Hand wogte die kupferfarbene Flüssigkeit im Whiskyschwenker sachte hin und her. In der rechten Hand hielt er zwischen Zeige- und Mittelfinger eine Zigarette; eine Angewohnheit, die er einfach nicht aufgeben konnte, so sehr er sich auch bemühte. Eine wirklich hässliches Laster, dieses Rauchen. Ungeheuerlich schädlich, nicht nur für seine Gesundheit sondern auch für die Gemälde, die seinen Salon zierten.
Bei diesem Gedanken huschten die müden Augen hinter den Brillengläsern zum Vermeer hinüber, dem Liebling in seiner Sammlung. Zugegeben, diese Perle hatte ihn sein halbes Vermögen gekostet, aber sie war es wert. Auf seine alten Tage konnte ihn nicht mehr viel beglücken, und wozu all das Geld horten? Ob seine Nachkommen nun einen Vermeer erbten oder ein paar digitale Ziffern auf irgendwelchen Sicherheitsservern in Liechtenstein und der Schweiz – was machte es für einen Unterschied?
Pfeifer nippte am Scotch, schloss für einen Moment die Augen und lehnte sich mit einem wohligen Seufzer zurück. Diese Abende waren eine einzige Labsal: ausgesperrt war die Arbeit mit ihren abscheulichen Verbrechen, ausgesperrt das triste Münchner Herbstwetter, ausgesperrt die liebe Ehefrau, deren Zuwendung einem durchaus auch einmal zuviel werden konnte – ausgesperrt die ganze Welt.
Nun, beinahe.
Während die Musikanlage den dritten Satz anstimmte und in Anselm Pfeifer das Gefühl, in einem zeitlosen Vakuum zu sitzen, verstärkte, richtete er den Blick auf die Signatur des Gemäldes: ein schwungvoll niedergeschriebene R .
R . Nichts weiter. Nur ein pathetisches R , das im Kontrast zum ganzen Gemälde stand. Nicht einmal ein Punkt war hinter den Buchstaben gesetzt, auch keine Jahreszahl. Pfeifer wusste, dass das Gemälde 2001 entstanden war. Und ihm war durchaus klar, wie sehr das Dargestellte den Künstler charakterisierte. Sämtliche Kunstkenner wären aus dem Häuschen, wenn sie einen Blick auf dieses Gemälde und anschließend auf den Schöpfer werfen dürften, sähen sie doch ihre Theorie, der Künstler sei in seinen Werken wiederzufinden, bestätigt.
Bei diesem Gedanken schmunzelte Pfeifer. Er streckte die Hand mit der Zigarette aus und ließ die Kippe in den Gluttöter fallen.
In letzter Zeit musste er oft an das erste Zusammentreffen mit diesem Menschen denken. Er hatte sein Leben ziemlich durcheinandergewirbelt, und das war noch freundlich ausgedrückt. Der Vorwurf seiner Frau, er habe sich damals des jungen Mannes angenommen, weil ihnen lediglich Töchter beschieden waren, wies er
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