Venusbrüstchen: Roman (German Edition)
Gartenarbeit ließ Lilli sich nur herab, wenn Nachbar Petersen, ein rüstiger Witwer Ende Fünfzig, sich auf seiner Sonnenliege räkelte und ihr begehrliche Blicke zuwarf. Dann allerdings zog sie das Großgeblümte an, setzte einen Strohhut mit breiter Krempe auf, kramte alte Ballhandschuhe hervor und beschnitt die Rosenhecken so kokettierend und anmutig, als sei sie die bezaubernde Joséphine Bonaparte auf Malmaison und Nachbar Petersen ein beträchtlich aufgeschossener Napoleon.
Judith setzte sich unschlüssig auf den Treppenabsatz. Es war ein heißer Augusttag. Margeriten und Phlox leuchteten in sommerlicher Pracht, eine blaue Clematis rankte sich um das Blumengitter, Astern und Dahlien nickten mit den Köpfen, und die Sonnenblumen standen schwer und träge da. Ein Erntetag, dachte Judith. Ein Tag, an dem man bereits den Herbst erahnte.
Sie sprang auf. Nun gut. Wenn Mutter nicht da war, so würde eben Hubert der Erste sein, dem sie die frohe Botschaft brachte. Sie lief, zwei, drei Stufen auf einmal nehmend, zurück in ihre Wohnung, schenkte sich abermals Sekt nach und leerte das Glas in einem Zug. »Prost, Mutter Judith«, sagte sie feierlich. Dann lachte sie übermütig. War wirklich gut, dieser Sekt. Für welche Gelegenheit er wohl gedacht war? Für Huberts Heiratsantrag, den die ganze Familie bereits seit fünf Jahren, mit angehaltenem Atem, sozusagen, erwartete und mit dem er sich zierte wie ein reicher Erbonkel mit seinem Hinscheiden? Tja. Sie war eben lange Zeit geprüft und immer noch nicht für gut befunden worden. Die Frage war nur: Wollte sie Hubert überhaupt heiraten? Eigentlich bezeichnend, dass dies nie zur Debatte gestanden hatte. Man war der Ansicht, es sei für sie, Judith Uhland, eine außerordentliche Ehre, Herrn Regierungsrat Ellert zu ehelichen, obwohl sie doch eine so mittelmäßige Person war. Eine mittelmäßige Person … War sie das wirklich?
Sie seufzte und griff zum Telefon.
»Hallo, Hubert. Die liebe Judith ist am Apparat. Wie geht’s?« Während sie sprach, betrachtete sie sich im Garderobenspiegel. Ihr schmales Gesicht war freudig gerötet, und ihre Augen, die wie graues Rauchglas wirkten und von einem Kranz dichter schwarzer Wimpern umgeben waren, strahlten. »Judith? Was ist los? Du klingst so aufgeregt.«
»Bin ich auch. Ich bin so kribbelig wie ein Haufen Ameisen. Ich habe nämlich Nachricht bekommen.«
»Nachricht von wem und Nachricht worüber?«
Judith blickte abermals in den Spiegel und schnitt eine Grimasse. Typisch, dachte sie. Typisch Hubert. Sprach immer, als diktiere er einen langweiligen Schriftsatz: »… und bitten wir Sie umgehend um Nachricht, von wem diesbezügliche Nachricht nachrichtlich zu benachrichtigen sei …«
»Hubert! Was interessiert mich zurzeit wohl am meisten? Und wofür habe ich am meisten gekämpft? Mit all meinen Anträgen und Briefen und den Besprechungen im Jugendamt Ulm und den Telefonaten? Na?«
»Du meinst deinen Antrag auf Pflegschaft?« Huberts Stimme rastete ein wie das kleine quietschende Gartentor vor Judiths Häuschen.
»Ja, meinen Antrag auf Pflegschaft. Er ist angenommen. Hubert, stell’ dir vor, er ist angenommen, angenommen, angenommen. Und ich sitze hier, habe deinen besonderen Gelegenheitssekt geköpft und kriege schon ganz glasige Augen. Du musst unbedingt im Amt Schluss machen und zu mir kommen. Wir wollen feiern. Bitte, Hubert!«
»Ob es für mich ein Grund zu feiern ist, wenn du plötzlich drei Kinder am Hals …«
»Hubert!«
»… wenn du plötzlich die Sorge für drei Kinder zu tragen hast; bleibt dahingestellt. Du weißt ja. Unsere Ansichten liegen in diesem Falle weit auseinander. Doch auf mich hast du leider, leider keine Rücksicht genommen bei deinem einsamen Entschluss.«
Die Gartentorstimme schnappte noch ein wenig fester ein. »Mein lieber Hubert. Wenn deine Schwester und ihr Mann bei einem Badeunfall ums Leben gekommen wären, und drei Kinder gehabt hätten, dann hättest du das Gleiche getan, da bin ich ganz sicher. Ich weiß, es wäre Margareths Wunsch gewesen, dass die Kinder zu mir und Lilli kommen. Schließlich sind wir die nächsten Verwandten. Und wir haben Platz. Ich wohne hier mietfrei, arbeite nur halbtags, wir haben einen Garten, ein Gymnasium ist in der Nähe … was will man mehr?«
»Ja, was will man mehr?«, wiederholte Hubert spöttisch.
»Außerdem war es von vornherein klar, dass die Drei nicht bei Onkel Konrad und Tante Anna in Ulm bleiben können. Die beiden haben bis zum Ende
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