Verblendung
sechziger Jahren gestorben sind.«
Harriet Vanger schien nachzudenken. Sie blickte ins Dunkel hinaus. Erneut beschlich Mikael das unangenehme Gefühl, sich ganz alleine in einer heiklen Lage zu befinden. Harriet Vangers Gewehr lehnte immer noch einen halben Meter von ihr entfernt an der Zeltwand. Schließlich besann er sich und wechselte das Thema.
»Aber wie haben Sie es geschafft, Schafzüchterin in Australien zu werden? Ich weiß bereits, dass Anita Vanger Sie von der Hedeby-Insel fortgeschmuggelt hat, vermutlich im Kofferraum, als die Brücke einen Tag nach dem Unfall wieder freigegeben worden war.«
»Ich lag tatsächlich nur auf dem Boden vor den Rücksitzen und war mit einer Wolldecke zugedeckt. Ich ging zu Anita, als sie auf die Insel kam und sagte ihr, dass ich fliehen musste. Sie haben richtig geraten, ich habe mich ihr anvertraut. Sie hat mir geholfen und war mir über all die Jahre eine loyale Freundin.«
»Wie sind Sie nach Australien gekommen?«
»Zuerst habe ich ein paar Wochen in Anitas Studentenzimmer in Stockholm gewohnt, bis ich Schweden verließ. Anita hatte eigenes Geld und lieh mir eine größere Summe. Ich bekam auch ihren Pass. Wir sahen uns sehr ähnlich, ich musste mir nur die Haare blond färben. Vier Jahre lang wohnte ich in einem Kloster in Italien - ich war zwar keine Nonne, aber es gibt Klöster, in denen man billig Zimmer mieten kann, um in Ruhe und Frieden nachdenken zu können. Dann begegnete ich zufällig Spencer Cochran. Er war ein paar Jahre älter als ich, hatte gerade sein Examen in England gemacht und reiste noch ein bisschen kreuz und quer durch Europa. Ich verliebte mich. Und er sich auch. So einfach war das. Ich heiratete ihn 1971 als Anita Vanger. Ich habe es nie bereut. Er war ein wunderbarer Mann. Leider ist er vor acht Jahren gestorben, und mir fiel mit einem Mal die Farm zu.«
»Aber der Pass - es musste doch jemand auffallen, dass es zwei Anita Vangers gab?«
»Nein, wieso? Eine Schwedin namens Anita Vanger ist verheiratet mit Spencer Cochran. Ob sie jetzt in London oder Australien wohnt, spielt keine Rolle. In London ist sie Spencer Cochrans Frau, die eben getrennt von ihm lebt. In Australien lebt sie mit ihm zusammen. Niemand gleicht die Melderegister zwischen London und Canberra ab. Außerdem bekam ich ja bald einen australischen Pass auf den Namen Cochran. Dieses Arrangement funktioniert prächtig. Die Sache hätte nur gefährdet werden können, wenn es Anita in den Sinn gekommen wäre, zu heiraten. Meine Ehe ist in den schwedischen Melderegistern eingetragen.«
»Sie hat es also bleiben lassen.«
»Sie behauptet, dass sie keinen gefunden hat. Aber ich weiß, dass sie für mich verzichtet hat. Sie war eine echte Freundin.«
»Was hat sie damals in Ihrem Zimmer gemacht?«
»Ich war an jenem Tag nicht bei klarstem Verstand. Ich hatte Angst vor Martin, aber solange er in Uppsala war, konnte ich das Problem verdrängen. Dann stand er da einfach auf der Straße in Hedestad, und ich begriff, dass ich niemals in meinem ganzen Leben sicher sein würde. Ich schwankte zwischen zwei Möglichkeiten - entweder Henrik alles zu erzählen oder zu fliehen. Als Henrik keine Zeit hatte, lief ich rastlos durch die Stadt. Ich verstehe natürlich, dass dieser Unfall auf der Brücke für meine Familienmitglieder alles überschattet hat, aber eben nicht für mich. Ich hatte meine eigenen Probleme und war mir des Unfalls kaum bewusst. Alles kam mir so unwirklich vor. Dann lief mir zufällig Anita über den Weg, die in einem kleinen Gästehäuschen auf Gerdas und Alexanders Grundstück wohnte. Da entschloss ich mich, sie um Hilfe zu bitten. Ich blieb die ganze Zeit bei ihr und traute mich kein einziges Mal, den Fuß vor die Tür zu setzen. Aber eins musste ich auf meiner Flucht unbedingt mitnehmen - ich hatte alles, was geschehen war, in ein Tagebuch geschrieben, außerdem brauchte ich ja ein paar Sachen zum Anziehen. Anita holte alles für mich.«
»Ich nehme an, sie konnte der Versuchung nicht widerstehen, das Fenster zu öffnen und einen Blick auf den Unfallort zu werfen.« Mikael überlegte kurz. »Nur eines begreife ich nicht: Warum sind Sie nicht zu Henrik gegangen, wie Sie es ursprünglich vorgehabt hatten?«
»Was glauben Sie?«
»Ich weiß es wirklich nicht. Ich bin überzeugt, dass Henrik Ihnen geholfen hätte. Martin wäre sofort unschädlich gemacht worden, und Henrik hätte Sie natürlich nicht bloßgestellt. Er hätte das Ganze irgendwo diskret mit einer Art
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