Verblendung
er in die Fußstapfen seines Vaters treten würde. Er war schwach und verschlossen und grüblerisch, konnte aber auch charmant und enthusiastisch sein. Er hatte eine schwierige Teenagerzeit, aber als er an der Universität anfing, kam alles in Ordnung. Er ist … na ja, er ist immerhin Geschäftsführer dessen, was vom Vanger-Konzern noch übrig ist, und das darf man wohl als ausreichendes Zeugnis betrachten.«
»Und Harriet?«, fragte Mikael.
»Harriet wurde mein Augenstern. Ich versuchte, ihr Geborgenheit und Selbstvertrauen zu vermitteln. Wir hatten ein sehr enges Verhältnis zueinander. Ich betrachtete sie als meine eigene Tochter, und sie stand mir mit der Zeit bedeutend näher als ihren Eltern. Wissen Sie, Harriet war ein ganz besonderes Mädchen. Genauso verschlossen wie ihr Bruder, doch von einer schwärmerischen Religiosität, was in unserer Familie eine krasse Ausnahme war. Ihre Begabung und Intelligenz standen außer Frage. Sie hatte Moral und Rückgrat. Als sie vierzehn, fünfzehn Jahre alt war, bestand für mich kein Zweifel, dass sie - im Gegensatz zu ihrem Bruder und all den durchschnittlichen Kusinen und Neffen - dafür bestimmt war, eines Tages den Konzern zu leiten oder zumindest eine zentrale Rolle darin zu spielen.«
»Und was ist dann passiert?«
»Wir sind jetzt beim Kern meines Anliegens angekommen. Ich möchte, dass Sie herausfinden, wer in der Familie Harriet ermordet und danach fast vierzig Jahre versucht hat, mich in den Wahnsinn zu treiben.«
5. Kapitel
Donnerstag, 26. Dezember
Zum ersten Mal, seitdem Henrik Vanger seinen Monolog begonnen hatte, war es dem Alten gelungen, ihn zu überrumpeln. Mikael musste ihn bitten, seinen letzten Satz zu wiederholen, um sicherzugehen, dass er sich nicht verhört hatte. Nichts in den Artikeln, die er gelesen hatte, deutete darauf hin, dass im innersten Kreis der Familie ein Mord begangen worden sein könnte.
Vanger fuhr fort: »Es war der 22. September 1966. Harriet war sechzehn und hatte gerade ihr zweites Jahr auf dem Gymnasium begonnen. Es war ein Samstag, und es sollte der schlimmste Tag meines Lebens werden. Ich bin den Lauf der Ereignisse so oft durchgegangen, dass ich glaube, mich an jede Minute genau erinnern zu können - alles weiß ich, bis auf das Wichtigste.«
Er machte eine ausladende Handbewegung.
»Hier im Haus war ein Großteil meiner Verwandten versammelt. Es war das alljährliche Abendessen, zu dem sich die Teilhaber des Konzerns trafen, um über die Geschäfte der Familie zu sprechen. Das war eine Tradition, die mein Großvater seinerzeit eingeführt hatte und die auf zumeist widerwärtige Veranstaltungen hinauslief. In den achtziger Jahren machte man damit Schluss, weil Martin anordnete, dass alle Diskussionen über die Firma auf den regulären Vorstandssitzungen und Versammlungen stattfinden sollten. Das war die beste Entscheidung, die er jemals gefällt hat. Heute sind es schon zwanzig Jahre, dass sich die Familie nicht mehr zu solchen Veranstaltungen trifft.«
»Sie haben gesagt, dass Harriet ermordet wurde.«
»Warten Sie. Lassen Sie mich erzählen, was geschehen ist. Es war ein Samstag. Außerdem war auch Festtag mit einem Umzug zum ›Tag des Kindes‹, der vom Sportverein in Hedestad organisiert wurde. Harriet war tagsüber in der Stadt gewesen und hatte zusammen mit ihren Schulkameraden bei den Festlichkeiten zugesehen. Um zwei Uhr nachmittags kam sie hierher auf die Hedeby-Insel zurück. Das Abendessen war für fünf Uhr angesetzt, sie sollte auch dabei sein und gleichaltrige Jugendliche aus der Familie kennenlernen.«
Henrik Vanger stand auf und trat ans Fenster. Er winkte Mikael zu sich und sagte: »14.15 Uhr, ein paar Minuten nachdem Harriet heimgekommen war, geschah da draußen auf der Brücke ein fürchterlicher Unfall. Ein Mann namens Gustav Aronsson, der hier auf der Insel einen Hof besitzt, bog auf die Brücke ein und stieß frontal mit einem Tanklaster zusammen, der gerade Heizöl ausliefern wollte. Wie genau der Unfall geschah, wurde nie wirklich geklärt - aus beiden Richtungen hatte man gute Sicht -, aber die zwei fuhren zu schnell, und so kam es zur Katastrophe. Der Fahrer des Tanklasters versuchte den Zusammenstoß zu vermeiden und riss wohl instinktiv das Steuer herum. Er fuhr ins Brückengeländer, der Tanklastzug kippte und legte sich quer über die Brücke, wobei das hintere Fahrgestell weit über die gegenüberliegende Kante hinausragte … Eine Metallstrebe bohrte sich wie ein Spieß in
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