Verbrechen und Strafe (Schuld und Sühne)
›Sollen nur alle sehen,‹ sagt sie, ›wie die adligen Kinder eines beamteten Vaters als Bettler durch die Straße ziehen!‹ Sie schlägt alle Kinder, und die Kinder weinen. Die Lenja lehrt sie singen, den Jungen tanzen, Polina Michailowna ebenfalls; sie zerreißt alle Kleider und näht ihnen Mützchen, wie sie die Komödianten haben; und sie selbst will ein Becken tragen und darauf schlagen, statt Musik ... Sie will auf nichts hören ... Denken Sie sich nur, was soll daraus werden? Es geht doch einfach nicht!«
Lebesjatnikow hätte noch mehr gesprochen, aber Ssonja, die ihm, kaum noch atmend, zugehört hatte, ergriff plötzlich ihre Mantille, den Hut und lief aus dem Zimmer, sich im Laufen ankleidend. Raskolnikow folgte ihr, Lebesjatnikow verließ zugleich mit ihm das Zimmer.
»Sie ist ganz gewiß verrückt geworden!« sagte er zu Raskolnikow, mit ihm auf die Straße tretend. »Ich wollte bloß Ssofja Ssemjonowna nicht erschrecken und sagte darum, ›es kommt mir so vor‹; aber es ist gar kein Zweifel möglich. Man sagt, daß bei der Schwindsucht im Gehirn solche Bläschen entstehen. Schade, daß ich nichts von Medizin verstehe. Ich versuchte sie übrigens zu überreden, aber sie will nichts hören.«
»Haben Sie ihr von diesen Bläschen erzählt?«
»Das heißt, eigentlich nicht von den Bläschen. Auch würde sie nichts verstanden haben! Ich meine aber: Wenn man einen Menschen mit logischen Gründen davon überzeugt, daß er eigentlich keinen Grund zum Weinen hat, so hört er zu weinen auf. Das ist klar. Und Sie sind der Ansicht, daß er nicht aufhören wird?«
»Dann wäre das Leben viel zu leicht«, antwortete Raskolnikow.
»Erlauben Sie, erlauben Sie! Katerina Iwanowna könnte es natürlich schwer verstehen. Aber ist Ihnen bekannt, daß man in Paris schon ernsthaft versucht hat, Verrückte durch bloße logische Überredung zu heilen? Ein dortiger Professor, der vor kurzem gestorben ist, ein bekannter Gelehrter, ist zur Überzeugung gelangt, daß man sie auf diese Weise heilen kann. Seine Grundidee ist, daß bei Verrückten eine besondere Störung im Organismus nicht vorliegt und daß der Wahnsinn sozusagen ein logischer Irrtum ist, ein Denkfehler, eine falsche Anschauung von den Dingen. Er hat so einen Patienten allmählich widerlegt, und denken Sie sich, er soll Erfolge erzielt haben!! Da er aber dabei auch noch Duschen anwandte, so werden die Erfolge dieses Heilverfahrens natürlich noch angezweifelt ... So glaube ich wenigstens ...«
Raskolnikow hörte ihm schon lange nicht mehr zu. Als er sein Haus erreicht hatte, nickte er Lebesjatnikow zu und trat ins Tor. Lebesjatnikow kam zur Besinnung, sah sich um und lief weiter.
Raskolnikow trat in seine Kammer und blieb mitten in ihr stehen. – Warum bin ich nur hierher zurückgekehrt? – Er betrachtete die gelbe abgewetzte Tapete, den Staub, sein Sofa ... Vom Hofe her klang ein ununterbrochenes metallisches Klopfen, als ob man irgendwo einen Nagel hineinjagte ... Er trat ans Fenster, reckte sich auf den Zehen und blickte lange mit dem Ausdrucke außerordentlicher Aufmerksamkeit in den Hof hinaus. Der Hof war aber leer, und man sah die Klopfenden nicht. Im Seitengebäude links war hier und da ein Fenster offen; auf den Fensterbrettern standen Töpfe mit verkümmerten Geranien, und vor den Fenstern hing Wäsche ... Dies alles kannte er auswendig. Er wandte sich weg und setzte sich aufs Sofa.
Noch nie, noch nie hatte er sich so furchtbar einsam gefühlt!
Ja, er fühlte wieder, daß er Ssonja vielleicht wirklich hassen werde, und zwar gerade jetzt, wo er sie unglücklicher gemacht hatte.
Warum war er zu ihr gegangen? Um um ihre Tränen zu betteln? Warum muß er unbedingt ihr Leben vergiften?! Ach, diese Gemeinheit!
»Ich bleibe allein,« sagte er plötzlich, »und sie wird nicht zu mir ins Zuchthaus kommen!«
Nach fünf Minuten hob er den Kopf und lächelte eigentümlich. Ein sonderbarer Gedanke war ihm gekommen.
– Vielleicht ist es in Sibirien wirklich besser – kam es ihm plötzlich in den Sinn.
Er wußte nicht mehr, wie lange er in seinem Zimmer mit den unklaren Gedanken, die sich in seinem Kopfe drängten, dagesessen hatte. Plötzlich ging die Tür auf, und herein trat Awdotja Romanowna. Sie blieb zaudernd stehen und sah ihn aufmerksam von der Schwelle her an, so wie er vorhin Ssonja angesehen hatte; erst dann kam sie näher und setzte sich auf ihren gestrigen Stuhl ihm gegenüber. Er sah sie stumm und ganz gedankenlos an.
»Sei nicht
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