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Verbrechen und Strafe (Schuld und Sühne)

Titel: Verbrechen und Strafe (Schuld und Sühne) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fëdor Michajlovic Dostoevskij
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Erwartung stehen. Auch ihr Lakaienlied hatte sie mit einer ernsten und respektvollen Miene gesungen.
    »He, Philipp, noch ein Glas!« rief Swidrigailow.
    »Ich werde nicht trinken«, sagte Raskolnikow.
    »Wie Sie wollen, es ist nicht für Sie. Trink, Katja! Heute brauche ich von dir nichts mehr, geh!«
    Er schenkte ihr ein volles Glas ein und legte einen gelben Rubelschein auf den Tisch. Katja trank das Glas auf einmal aus, wie Frauen immer zu trinken pflegen, das heißt, ohne es abzusetzen und zwanzigmal schluckend, nahm das Geld, küßte Swidrigailow die Hand, was er ihr mit höchst ernstem Gesicht gewährte, und ging aus dem Zimmer; ihr folgte auch der Junge mit der Drehorgel. Beide waren von der Straße heraufgeholt worden. Swidrigailow befand sich noch nicht mal eine Woche in Petersburg, aber um ihn herum herrschte schon eine patriarchalische Stimmung. Auch der Wirtshauskellner Philipp war schon sein »Bekannter« und bediente ihn höchst unterwürfig. Die Tür zum großen Saal wurde geschlossen, Swidrigailow benahm sich in diesem Zimmer wie zu Hause und verbrachte hier vielleicht ganze Tage. Das Wirtshaus war schmutzig, gemein und nicht mal zweiklassig.
    »Ich ging zu Ihnen und suchte Sie«, begann Raskolnikow. »Warum bin ich aber jetzt vom Heumarkt in den *schen Prospekt abgebogen? Ich biege hier nie ein und komme nie her. Ich pflege vom Heumarkt immer nach rechts abzubiegen. Der Weg zu Ihnen führt hier auch gar nicht vorbei. Kaum bog ich ein, als ich Sie sofort erblickte! Das ist doch seltsam!«
    »Warum sagen Sie nicht gleich: es ist ein Wunder?«
    »Weil es vielleicht nur ein Zufall ist.«
    »Was für eine merkwürdige Art haben all diese Leute!« sagte Swidrigailow, laut auflachend. »Er will nicht zugeben, selbst wenn er innerlich an ein Wunder glaubt! Sie sagen ja selbst, daß es ›vielleicht‹ nur ein Zufall sei. Wie sie hier alle fürchten, ihre eigene Meinung zu haben, das können Sie sich gar nicht vorstellen, Rodion Romanowitsch! Ich meine nicht Sie. Sie haben wohl eine eigene Meinung und fürchten nicht, sie zu haben. Dadurch haben Sie auch mein Interesse geweckt.«
    »Sonst durch nichts?«
    »Das genügt doch schon allein.«
    Swidrigailow war offenbar in erregtem Zustande, doch nur ein klein wenig. Vom Champagner hatte er nur ein halbes Glas getrunken.
    »Mir scheint, Sie kamen zu mir das erste Mal, noch ehe Sie erfahren hatten, ob ich fähig sei, das, was Sie eine eigene Meinung nennen, zu haben«, bemerkte Raskolnikow.
    »Nun, damals war es eine andere Sache. Jeder hat seine eigenen Wege. Und was das Wunder betrifft, so will ich Ihnen sagen, daß Sie die letzten zwei oder drei Tage wohl verschlafen haben. Ich habe Ihnen selbst dieses Wirtshaus genannt, und es ist also gar kein Wunder dabei, daß Sie hergekommen sind: ich habe Ihnen selbst den Weg erklärt, die Stelle angegeben, wo es sich befindet, und die Stunden, wo ich hier zu treffen bin. Wissen Sie es noch?«
    »Ich habe es vergessen«, sagte Raskolnikow erstaunt.
    »Das glaube ich. Zweimal habe ich es Ihnen gesagt. Die Adresse hat sich Ihrem Gedächtnis rein mechanisch eingeprägt. Sie haben diesen Weg mechanisch eingeschlagen, streng nach der Adresse, ohne es selbst zu wissen. Als ich es Ihnen damals sagte, hoffte ich gar nicht, daß Sie mich verstehen würden. Sie verraten sich allzusehr, Rodion Romanowitsch. Und dann noch eins: ich bin überzeugt, daß es in Petersburg viele Menschen gibt, die im Gehen mit sich selbst sprechen. Es ist eine Stadt von Halbverrückten. Wenn es bei uns Wissenschaften gäbe, so hätten die Mediziner, Juristen und Philosophen die wertvollsten Untersuchungen über Petersburg anstellen können, ein jeder in seinem Fache. Selten wo gibt es so viel düstere, scharfe und sonderbare Einflüsse auf die Menschenseele wie in Petersburg. Was sind schon die klimatischen Einflüsse allein wert! Dabei ist Petersburg das administrative Zentrum Rußlands, und sein Charakter muß überall zum Ausdruck kommen. Es handelt sich aber nicht darum, sondern, daß ich Sie schon einigemal von der Seite beobachtet habe. Wenn Sie aus dem Hause treten, halten Sie den Kopf noch gerade. Aber nach zwanzig Schritten lassen Sie ihn sinken und verschränken die Hände im Rücken. Sie schauen vor sich und scheinen doch weder vor sich noch neben sich etwas zu sehen. Zuletzt fangen Sie an, die Lippen zu bewegen und mit sich selbst zu sprechen, wobei Sie eine Hand freimachen und deklamieren; endlich bleiben Sie auch lange mitten auf der

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