Verbrechen und Strafe (Übersetzung von Swetlana Geier)
Raskolnikow gestoßen hatte.
»Ah! Sie sind wieder da! Haben Sie etwas vergessen? ... Aber was ist mit Ihnen?«
Raskolnikow kam mit blassen Lippen und starrem Blick näher, trat langsam an ihn, dicht an den Tisch heran, stützte sich mit der Hand auf die Tischplatte, wollte etwas sagen, konnte aber nicht; man hörte nur irgendwelche unzusammenhängenden Töne.
»Ihnen ist schlecht! Einen Stuhl! Hier, setzen Sie sich auf den Stuhl, setzen Sie sich! Wasser!«
Raskolnikow ließ sich auf den Stuhl nieder, wandte aber die Augen nicht vom Gesicht des höchst unangenehm überraschten Ilja Petrowitsch. Beide sahen eine Minute lang einander an und warteten. Jemand brachte Wasser.
»Ich habe ...« begann Raskolnikow.
»Trinken Sie Wasser.«
Raskolnikow stieß mit der Hand das Glas zurück und sagte leise, stockend, doch vernehmlich:
» Ich habe damals die alte Beamtenwitwe und ihre Schwester Lisaweta mit dem Beil erschlagen und beraubt!«
Ilja Petrowitsch machte den Mund auf. Von allen Seiten kam man zusammengelaufen.
Raskolnikow wiederholte seine Aussage.
Epilog
I
Sibirien. Am Ufer eines breiten, öden Flusses steht eine Stadt, eines von den administrativen Zentren Rußlands; in der Stadt ist eine Festung, in der Festung befindet sich ein Zuchthaus. Im Zuchthause sitzt schon seit neun Monaten der Sträfling zweiter Klasse Rodion Raskolnikow. Seit dem Tage seines Verbrechens sind fast anderthalb Jahre vergangen.
Das Gerichtsverfahren gegen ihn verlief ohne große Schwierigkeiten. Der Verbrecher hielt seine Aussage bestimmt und klar aufrecht, ohne die Umstände zu verwickeln, ohne sie zu seinen Gunsten zu mildern, ohne die Tatsachen zu entstellen und ohne auch die geringste Einzelheit zu verschweigen. Er beschrieb bis zum letzten Detail den ganzen Vorgang des Mordes, erklärte das Geheimnis des »Pfandes« (des Holzbrettchens mit der Metallplatte), das man in den Händen der ermordeten Alten gefunden hatte; erzählte genau, wie er die Schlüssel von der Ermordeten genommen hatte, beschrieb diese Schlüssel, beschrieb auch die Truhe und womit sie angefüllt war; er erklärte das Rätsel der Ermordung Lisawetas; erzählte, wie Koch gekommen war und geklopft hatte und nach ihm der Student erschienen war, und gab alles wieder, was sie miteinander gesprochen hatten; erzählte, wie er, der Verbrecher, nachher die Treppe hinuntergelaufen war und das Geschrei von Mikolka und Mitjka gehört hatte; wie er sich in der leeren Wohnung versteckt hatte und dann nach Hause gekommen war; schließlich gab er den Stein auf dem Hofe auf dem Wosnessenskij-Prospekt hinter dem Tore an, unter dem man später die Sachen und den Beutel auch wirklich fand. Mit einem Wort: die Sache war vollkommen klar. Die Untersuchungsbeamten und die Richter waren unter anderem sehr darüber erstaunt, daß er den Beutel und die Sachen unter dem Stein versteckt hatte, ohne von ihnen Gebrauch zu machen, besonders aber darüber, daß er sich nicht nur aller Gegenstände, die er geraubt hatte, nicht erinnerte, sondern sich sogar in ihrer Zahl irrte. Der Umstand, daß er kein einzigesmal den Beutel geöffnet hatte und nicht einmal wußte, wieviel Geld er enthielt, erschien ganz unglaubwürdig. Im Beutel fand man dreihundertsiebzehn Rubel in Banknoten und drei Zwanzigkopekenstücke; von dem langen Liegen unter dem Stein hatten einige zu oberst liegende Scheine, es waren gerade die größeren, sehr gelitten. Lange mühte man sich ab, zu erfahren, warum der Angeklagte gerade in diesem einen Punkte log, während er in allen übrigen Dingen freiwillig und aufrichtig gestand. Schließlich gaben einige (besonders die Psychologen) die Möglichkeit zu, daß er in den Beutel wirklich nicht hineingeschaut hatte und darum auch nicht wußte, was er enthielt; ohne es zu wissen, hätte er den Beutel unter dem Steine versteckt; daraus schloß man aber auch, daß das Verbrechen nur im Zustande einer gewissen vorübergehenden Unzurechnungsfähigkeit verübt werden konnte, sozusagen einer krankhaften Monomanie, zu morden und zu rauben, ohne weitere Absichten auf Bereicherung. Sehr gelegen kam die neueste Theorie von vorübergehender Geistesstörung, die man heutzutage so oft auf manche Verbrecher anzuwenden versucht. Zudem wurde der seit langem datierende hypochondrische Zustand Raskolnikows genau von vielen Zeugen bestätigt – vom Arzte Sossimow, von seinen früheren Kollegen, seiner Wirtin und dem Dienstmädchen. Das alles unterstützte außerordentlich die Annahme, daß
Weitere Kostenlose Bücher