Verbrechen und Strafe (Übersetzung von Swetlana Geier)
gebückt in den Samowar der Wirtin. Sie hörte nichts. Wer hätte auch erwarten können, daß er fortgehen würde? Nach einer Minute war er schon auf der Straße.
Es war gegen acht Uhr, die Sonne ging unter. Es herrschte die frühere Schwüle, er aber atmete mit Gier diese stinkende, staubige, durch die Stadt verpestete Luft. Der Kopf schwindelte ihm ein wenig, eine eigentümliche wilde Energie leuchtete plötzlich aus seinen entzündeten Augen und aus seinem abgemagerten, gelblich-weißen Gesicht. Er wußte nicht, überlegte auch nicht, wohin er gehen würde: er wußte nur das eine: »daß man dem allenheute noch, sofort auf einen Schlag, ein Ende machen müsse; daß er anders nicht nach Hause zurückkommen würde, weil er so nicht leben könne«. Doch wie ein Ende machen? Wodurch? Davon hatte er keine Ahnung und wollte daran auch nicht denken. Er versuchte den Gedanken zu verscheuchen, denn der Gedanke quälte ihn. Er fühlte und wußte nur, daß es notwendig war, daß alles sich ändere, so oder anders, »ganz gleich wie«, – das wiederholte er mit einer verzweifelten, unbeweglichen Entschlossenheit und großem Selbstvertrauen.
Nach alter Gewohnheit ging er den gewöhnlichen Weg seiner früheren Wanderungen zum Heumarkt. Kurz vor dem Heumarkte stand auf dem Straßenpflaster vor einem kleinen Laden ein junger schwarzhaariger Leierkastenmann und leierte ein rührendes Lied. Er begleitete ein etwa fünfzehnjähriges Mädchen, das auf dem Trottoir stand und wie ein vornehmes Fräulein mit Krinoline, Mantille, Handschuhen und einem Strohhut mit einer feuerroten Feder bekleidet war; alle diese Sachen waren alt und abgetragen. Mit einer zittrigen, aber recht angenehmen und starken Stimme sang sie ihr Lied in Erwartung eines Zweikopekenstücks aus dem Laden. Raskolnikow blieb neben zwei oder drei anderen Zuhörern stehen, hörte eine Weile zu, holte ein Fünfkopekenstück aus der Tasche und legte es dem jungen Mädchen in die Hand. Jenes brach den Gesang bei der empfindsamsten und höchsten Note ab, rief dem Leierkastenmann scharf zu: »Genug!« und beide gingen weiter, zu dem nächsten Laden.
»Lieben Sie Straßengesang?« wandte sich Raskolnikow an einen nicht mehr jungen Passanten, der neben ihm vor dem Leierkasten stand und wie ein Flaneur aussah. Jener blickte ihn bestürzt und erstaunt an. – »Ich liebe ihn«, fuhr Raskolnikow fort, doch mit einer Miene, als rede er gar nicht vom Straßengesang. »Ich liebe es, wenn an einem kalten, dunklen und feuchten Herbstabend zum Leierkasten gesungen wird, unbedingt an einem feuchten, wenn alle Leute auf der Straße blaßgrüne und kranke Gesichter haben; oder noch besser, wenn nasser Schnee ganz gerade, ohne Wind herabfällt, wissen Sie, und die Flammen der Gaslaternen hindurchleuchten ...«
»Ich weiß nicht ... Entschuldigen Sie ...« murmelte der Herr, wie durch die Frage, so auch durch das sonderbare Aussehen Raskolnikows erschreckt, und ging auf die andere Straßenseite hinüber.
Raskolnikow ging geradeswegs weiter und gelangte zu der Ecke des Heumarktes, wo der Kleinbürger und seine Frau, die damals mit Lisaweta sprachen, ihre Verkaufsstände hatten; jetzt waren sie aber nicht da. Als er aber die Stelle erkannt hatte, blieb er stehen, sah sich um und wandte sich an einen jungen Burschen im roten Hemde, der vor dem Eingange zu einem Mehllager gähnte.
»Hier handelt doch an der Ecke ein Kleinbürger mit einem Weib, seiner Frau, wie?«
»Allerlei Leute handeln hier«, antwortete der Bursche, Raskolnikow mit einem Blicke messend.
»Wie heißt er?«
»Wie man ihn getauft hat, so heißt er.«
»Bist du nicht auch aus dem Saraisker Kreise? Aus welchem Gouvernement bist du?«
Der Bursche sah Raskolnikow von oben herab an.
»Wir haben kein Gouvernement, Eure Durchlaucht, sondern bloß einen Kreis; die Reise hat mein Bruder gemacht, ich saß aber zu Hause und weiß von nichts ... Verzeihen Sie gütigst, Durchlaucht.«
»Ist es eine Garküche dort oben?«
»Es ist ein Wirtshaus, es gibt ein Billard, und man kann auch Prinzessinnen finden ... Eine Wonne!«
Raskolnikow durchschritt den Platz. Dort an der anderen Ecke stand eine dichte Volksmenge, lauter Bauern. Er drängte sich mitten hinein und blickte in jedes Gesicht. Aus irgendeinem Grunde fühlte er sich hingezogen, jeden Menschen anzusprechen. Die Bauern beachteten ihn aber nicht; sie redeten laut unter sich und drängten sich zu kleinen Gruppen zusammen. Er stand und dachte eine Weile nach und ging dann
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