Verbrechen und Strafe (Übersetzung von Swetlana Geier)
den zahlreichen Raubmorden und Brandstiftungen, über die man von überall berichtet; am sonderbarsten erscheint es mir, daß auch die Verbrechen in den höheren Klassen zunehmen und sozusagen parallel. Hier, hört man, hat ein ehemaliger Student die Post auf der Landstraße überfallen und ausgeraubt; dort fabrizieren Menschen, die gesellschaftlich die erste Stellung einnehmen, falsche Banknoten; in Moskau erwischt man eine ganze Gesellschaft von Leuten, die die Scheine der letzten Prämienanleihe fälschen, und unter den Hauptbeteiligten befindet sich ein Lektor der Weltgeschichte; dort, im Auslande wird einer unserer Sekretäre aus einem rätselhaften Grunde, der aber mit Geld zusammenhängt, ermordet ... Und wenn jetzt diese alte Pfandleiherin von einem Angehörigen der höheren Gesellschaftskreise ermordet wurde – Bauern versetzen doch keine Goldsachen, – womit kann man dann diese Verderbtheit des gebildeten Teiles unserer Gesellschaft erklären?«
»Es gibt eben viele wirtschaftliche Veränderungen ...« meldete sich Sossimow.
»Womit man es erklären kann?« fiel ihm Rasumichin heftig ins Wort. »Gerade mit der tief eingewurzelten Untüchtigkeit kann man es erklären.«
»Wie meinen Sie das eigentlich?«
»Was antwortete Ihr Moskauer Lektor auf die Frage, warum er die Scheine gefälscht habe? ›Alle bereichern sich auf jede Weise, so wollte auch ich reich werden.‹ Des genauen Wortlautes entsinne ich mich nicht, der Sinn war aber der, daß er auf fremde Rechnung, schnell und ohne Arbeit reich werden wollte! Die Leute sind eben gewöhnt, alles gratis zu haben, am Gängelbande zu gehen, Vorgekautes zu essen. Schlägt aber die große Stunde, so zeigt jeder sein wahres Gesicht ...«
»Aber die Moral? Und sozusagen die sittlichen Gesetze ...«
»Was regen Sie sich so auf?« mischte sich plötzlich Raskolnikow ein. »Es entspricht doch Ihrer Theorie!«
»Wieso meiner Theorie?«
»Führen Sie doch das, was Sie vorhin gepredigt haben, zu den letzten Konsequenzen, und es wird sich ergeben, daß es erlaubt ist, seine Mitmenschen abzuschlachten ...«
»Aber bitte!« rief Luschin aus.
»Nein, es ist doch nicht so!« versetzte Sossimow.
Raskolnikow lag blaß mit zitternder Oberlippe da und atmete schwer.
»Alles hat sein Maß«, fuhr Luschin hochmütig fort. »Eine ökonomische Idee bedeutet noch nicht die Aufforderung zum Mord, und wenn man nur annimmt ...«
»Ist es wahr«, unterbrach ihn Raskolnikow plötzlich wieder mit vor Wut zitternder Stimme, aus der man die eigentümliche Freude am Beleidigen heraushörte: »Ist es wahr, daß Sie Ihrer Braut sagten ... und zwar in der selben Stunde, als Sie ihr Jawort erhielten, daß Sie sich am meisten darüber freuten, daß ... daß sie eine Bettlerin ist ... weil es vorteilhafter sei, eine Frau aus dem Bettlerstande zu nehmen, um über sie später zu herrschen ... und ihr vorwerfen zu können, daß man ihr eine Gnade erwiesen hat?«
»Mein Herr!« rief Luschin erbost und gereizt; er war ganz rot geworden und hatte seine Fassung verloren. »Mein Herr ... so meinen Gedanken zu entstellen! Entschuldigen Sie mich, aber ich muß Ihnen sagen, daß die Gerüchte, die Sie erreicht haben, oder besser gesagt, die man Ihnen zugetragen hat, auch nicht den Schatten eines vernünftigen Grundes haben, und ich ahne schon, wer ... mit einem Worte ... dieser Pfeil ... mit einem Worte, Ihre Frau Mama ... Sie schien mir auch ohnedem, übrigens bei allen ihren ausgezeichneten Eigenschaften, eine etwas exaltierte und romantische Gedankenrichtung zu haben ... Aber ich war doch tausend Werst von der Annahme entfernt, daß sie die Sache in einer von der Phantasie dermaßen entstellten Weise auffassen und darstellen könnte ... Und schließlich ... schließlich ...«
»Wissen Sie aber was?« rief Raskolnikow aus, den Kopf vom Kissen hebend und ihn unverwandt mit durchdringendem brennendem Blicke ansehend. »Wissen Sie was?«
»Was denn?«
Luschin hielt inne und wartete mit herausfordernder und gekränkter Miene. Das Schweigen dauerte einige Sekunden.
»Daß, wenn Sie noch einmal ... wagen, auch nur ein Wort von meiner Mutter zu erwähnen ... ich Sie die Treppe hinunterwerfen werde!«
»Was hast du nur?« rief Rasumichin.
»Ah, so steht es also!« Luschin erbleichte und biß sich auf die Lippe. »Hören Sie, mein Herr«, begann er langsam, ich mit aller Kraft beherrschend, aber dennoch beinahe erstickend. »Ich habe schon vorhin, gleich beim ersten Schritt, Ihre Feindseligkeit
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