Verbrechen und Strafe
Erstens würde sich dann alles sofort verändern, sogar seine eigene Lage; darum muß er das Geheimnis sofort Dunja mitteilen. Vielleicht muß er sich auch selbst ausliefern, um Dunja von irgendeinem unbedachten Schritte zurückzuhalten. Der Brief? Dunja hat heute früh irgendeinen Brief erhalten! Von wem in Petersburg kann sie Briefe erhalten? (Vielleicht von Luschin?) Allerdings paßt da Rasumichin auf, aber Rasumichin weiß nichts. Vielleicht sollte er alles auch Rasumichin enthüllen? Dieser Gedanke war ihm widerwärtig.
Jedenfalls mußte er Swidrigailow so schnell als möglich sehen, – das war sein endgültiger Entschluß. Gott sei Dank, es war hier weniger um die Einzelheiten als um den Kern der Sache zu tun; aber wenn er schon fähig ist, wenn Swidrigailow etwas gegen Dunja im Schilde führt, so ...
Raskolnikow war während dieser Zeit, während des letzten Monats so müde geworden, daß er ähnliche Fragen nicht mehr anders lösen konnte als auf die eine Weise: »Dann töte ich ihn!« Das sagte er sich auch jetzt in kalter Verzweiflung, Ein unerträgliches Gefühl preßte ihm das Herz zusammen; er blieb mitten auf der Straße stehen und begann sich umzusehen: welchen Weg er eingeschlagen hat und wohin er geraten ist? Er befand sich auf dem *schen Prospekt, an die dreißig oder vierzig Schritte vom Heumarkt entfernt, den er schon passiert hatte. Der ganze erste Stock des Hauses links von ihm war von einer Gastwirtschaft eingenommen. Alle Fenster standen weit offen; nach den vielen Gestalten zu urteilen, die an den Fenstern vorbeihuschten, war das Wirtshaus gesteckt voll. Im Saale sang ein Chor, klangen eine Klarinette, eine Geige und dröhnte eine türkische Trommel. Man hörte auch Weibergekreisch. Er wollte schon umkehren und begriff nicht, wie er auf den *schen Prospekt geraten war, als er plötzlich in einem der letzten offenen Fenster des Wirtshauses Swidrigailow erblickte, der mit einer Pfeife im Munde hinter einem Teetischchen saß. Dies verblüffte ihn, er spürte beinahe Entsetzen. Swidrigailow beobachtete und musterte ihn schweigend und wollte, was Raskolnikow gleichfalls in Erstaunen versetzte, wie es schien, aufstehen, um sich leise und unbemerkt aus dem Staube zu machen. Raskolnikow stellte sich sofort so, als hätte er ihn gar nicht bemerkt, und blickte nachdenklich zur Seite, fuhr aber fort, ihn mit einem Augenwinkel zu beobachten. Sein Herz klopfte unruhig. Es stimmte: Swidrigailow wollte offenbar nicht gesehen werden. Er nahm die Pfeife aus dem Munde und schickte sich schon an, zu verschwinden; als er aber aufgestanden war und den Stuhl zur Seite geschoben hatte, merkte er wohl plötzlich, daß Raskolnikow ihn sah und beobachtete. Es war wieder so wie bei ihrer ersten Begegnung bei Raskolnikow, als er schlief. Ein schelmisches Lächeln zeigte sich auf Swidrigailows Gesicht, und es wurde immer breiter. Beide wußten, daß sie einander gesehen und beobachtet hatten. Schließlich lachte Swidrigailow laut auf.
»Nun! Kommen Sie doch herauf, wenn Sie wollen; ich bin hier!« rief er ihm aus dem Fenster zu.
Raskolnikow ging in das Wirtshaus hinauf.
Er fand ihn in einem sehr kleinen einfenstrigen Hinterzimmer, das an den großen Saal anstieß, in dem an etwa zwanzig kleinen Tischen beim verzweifelten Geschrei eines Sängerchors Kaufleute, Beamte und allerlei Leute Tee tranken. Irgendwo klapperten Billardkugeln. Auf dem Tischchen vor Swidrigailow standen eine angefangene Flasche Champagner und ein halbgefülltes Glas. In dem kleinen Zimmer befanden sich noch ein Junge mit einer kleinen Drehorgel und ein kräftiges rotbackiges Mädel mit aufgestecktem Rock und einem Tiroler Hütchen mit Bändern auf dem Kopfe, eine etwa achtzehnjährige Sängerin, die, trotz des Chorgesanges im anderen Zimmer, zur Begleitung der Drehorgel mit einer ziemlich heiseren Kontraaltstimme irgendein Lakaienlied sang ...
»Nun, genug!« unterbrach Swidrigailow sie bei Raskolnikows Erscheinen.
Das Mädchen brach sofort ab und blieb in respektvoller Erwartung stehen. Auch ihr Lakaienlied hatte sie mit einer ernsten und respektvollen Miene gesungen.
»He, Philipp, noch ein Glas!« rief Swidrigailow.
»Ich werde nicht trinken«, sagte Raskolnikow.
»Wie Sie wollen, es ist nicht für Sie. Trink, Katja! Heute brauche ich von dir nichts mehr, geh!«
Er schenkte ihr ein volles Glas ein und legte einen gelben Rubelschein auf den Tisch. Katja trank das Glas auf einmal aus, wie Frauen immer zu trinken pflegen, das heißt, ohne
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