Verdächtige Geliebte: Roman (German Edition)
über die Wangen. Ihre Blicke begegneten sich. Wer konnte das sein?
Es klopfte, und eine Männerstimme ertönte. »Frau Hanaoka?«
Sie hatte die Stimme schon einmal gehört, konnte sie jedoch nicht einordnen. Yasuko war wie versteinert und außerstande sich zu rühren. Sie und Misato starrten einander nur weiter an. Wieder klopfte es.
»Frau Hanaoka? Frau Hanaoka?«
Wer auch immer dort vor der Tür stand, wusste, dass sie zu Hause waren. Sie mussten reagieren. Aber wie konnten sie in dieser Situation die Tür öffnen?
»Geh ins kleine Zimmer. Mach die Tür zu, und komm auf keinen Fall raus«, befahl Yasuko ihrer Tochter im Flüsterton. Endlich kam ihr Gehirn wieder in Gang.
Es klopfte erneut.
Yasuko holte tief Luft. Nichts war geschehen. Es war ein ganz normaler Abend wie jeder andere.
»Ja, bitte?«, rief sie und begann die Rolle zu spielen, die sie spielen musste. Die Rolle einer Frau, die nicht gerade auf dem Wohnzimmerboden ihren geschiedenen Mann erwürgt hatte. »Wer ist da?«
»Ich bin’s. Ishigami von nebenan.«
Yasuko erschrak. Wer weiß, welchen Lärm sie gemacht hatten? Natürlich hatte ihr Nachbar allen Grund, argwöhnisch zu sein. Ishigami wollte wissen, was los war.
»Einen Moment, bitte«, rief Yasuko. Sie bemühte sich um einen ruhigen Tonfall, wusste aber nicht, wie weit ihr das gelang.
Misato hatte sich in das hintere Zimmer begeben und die Tür zugezogen. Yasuko betrachtete Togashis Leichnam. Sie musste irgendetwas tun.
Durch das Reißen am Kabel hatte der Kotatsu sich verschoben. Sie verrückte ihn um noch ein paar Meter, bis seine dicke Decke die Leiche bedeckte. Er stand jetzt an einem für einen Kotatsu sehr ungewöhnlichen Platz, aber im Augenblick hatte sie keine andere Wahl.
Yasuko überprüfte kurz ihre Kleidung. Plötzlich sah sie, dass Togashis ausgetretene Schuhe noch herumlagen, und kickte sie unter die Schuhablage. Vorsichtig, damit sie keinGeräusch verursachte, legte sie die Türkette vor. Die Tür war unverschlossen. Sie klopfte sich mit der Hand auf die Brust, um ihr Herz zu beruhigen. Als sie schließlich öffnete, hatte sie Ishigamis rundes, großes Gesicht unmittelbar vor sich. Seine schmalen Augen starrten sie an. Es lag kein erkennbarer Ausdruck auf seinem Gesicht, was Yasuko ein unheimliches Gefühl vermittelte.
»Äh, ja, was kann ich für Sie tun?«, fragte Yasuko und rang sich ein Lächeln ab, spürte aber, wie ihre Stirnmuskeln zuckten.
»Was war das für ein Lärm?«, fragte Ishigami mit noch immer undurchsichtiger Miene. »Ist etwas passiert?«
»Nein, nein, gar nichts«, erwiderte sie mit heftigem Kopfschütteln. »Verzeihen Sie, wenn wir Sie gestört haben.«
»Wenn Sie sicher sind, dass alles Ordnung ist, bin ich beruhigt«, sagte Ishigami, während seine schmalen Augen das Zimmer hinter ihr sondierten.
Yasuko wurde heiß am ganzen Körper. Sie sagte das erste, was ihr einfiel. »Da war ein Insekt, eine Kakerlake.«
»Eine Kakerlake?«
»Ja, an der Wand und ich – meine Tochter und ich – haben versucht, sie zu erwischen. Ich fürchte, wir haben einen ganz schönen Lärm veranstaltet …«
»Tot?«
Yasukos Miene versteinerte. »Was?«
»Die Kakerlake? Haben Sie sie erledigt?«
»Ja, … ja, natürlich«, sagte Yasuko und nickte mehrmals. »Erledigt, genau. Alles in Ordnung. Durchaus.«
»Gut. Falls Sie mal Hilfe bei so etwas brauchen, können Sie mich jederzeit rufen.«
»Haben Sie vielen Dank. Es tut mir wirklich leid, dass wirso viel Lärm gemacht haben.« Yasuko neigte den Kopf und machte die Tür zu. Und schloss ab. Erst, als sie hörte, dass Ishigami in seine Wohnung zurückgegangen war, sank sie unwillkürlich mit einem tiefen Seufzer zu Boden.
Hinter ihr ertönte ein Geräusch. »Mama?«, sagte Misato.
Yasuko erhob sich schwerfällig. Sie warf einen Blick auf die sich wölbende Kotatsu-Decke, und tiefe Verzweiflung überkam sie. »Es ist nicht mehr zu ändern«, sagte sie endlich.
»Was werden wir tun?« Misato sah ihre Mutter fragend an.
»Uns bleibt nichts anderes übrig, als die Polizei zu rufen.«
»Du willst dich stellen?«
»Es geht nicht anders, er ist tot, und Tote werden nicht wieder lebendig.«
»Aber was werden sie dann mit dir machen?«
»Ich weiß es nicht.« Yasuko strich sich das Haar aus dem Gesicht. Ihr wurde bewusst, dass sie wahrscheinlich völlig zerzaust aussah. Was der Mathematiklehrer von nebenan wohl gedacht hatte? Aber das war ja nun auch egal.
»Kommst du dann ins Gefängnis?«, fragte
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