Verdammnis
Polizei fand sie sechs Wochen später als Mitbewohnerin eines 67-jährigen Herrn in Haninge.
Der war eigentlich ganz in Ordnung gewesen. Er bot ihr Kost und Logis, und sie musste keine allzu große Gegenleistung dafür erbringen. Er wollte sie nur heimlich ansehen, wenn sie nackt war. Angefasst hatte er sie nie. Sie wusste, dass er per definitionem als pädophil gelten musste, aber sie fühlte sich kein einziges Mal von ihm bedroht. Vielmehr erlebte sie ihn als einen verschlossenen Menschen mit sozialen Problemen. Im Nachhinein empfand sie sogar ein seltsames Gefühl der Verbundenheit, wenn sie an ihn dachte. Sie waren beide völlige Außenseiter.
Ein Nachbar beobachtete sie irgendwann und alarmierte die Polizei. Der Sozialarbeiter versuchte, sie davon zu überzeugen, den Mann wegen sexueller Übergriffe anzuzeigen, aber sie weigerte sich hartnäckig, zuzugeben, dass irgendetwas Ungehöriges passiert war. Sie war schließlich 15 Jahre alt und konnte so etwas allein entscheiden. Fuck you . Da hatte Holger Palmgren eingegriffen und sie abgeholt. Er begann, Tagebuch über sie zu führen, als wollte er seine eigenen Zweifel klären. Die ersten Sätze waren im Dezember 1993 niedergeschrieben worden.
L. erweist sich immer mehr als das schwierigste Kind, mit dem ich jemals zu tun hatte. Ich frage mich, ob ich das Richtige tue, wenn ich mich ihrer erneuten Einlieferung nach St. Stefans widersetze. Sie hat innerhalb von drei Monaten zwei Pflegefamilien verschlissen und läuft offenbar Gefahr, sich in üble Situationen zu bringen, wenn sie ausreißt. Ich weiß nicht, was richtig und falsch ist. Heute habe ich ein ernstes Gespräch mit ihr geführt.
Lisbeth erinnerte sich noch an jedes Wort, das bei diesem ernsten Gespräch gesagt worden war. Es war der Tag vor Heiligabend gewesen. Holger Palmgren hatte sie mit zu sich nach Hause genommen und in seinem Gästezimmer einquartiert. Zum Abendessen kochte er Spaghetti mit Hackfleischsauce. Danach ließ er sie auf dem Wohnzimmersofa Platz nehmen, während er sich selbst in einen Sessel gegenüber setzte. Sie hatte sich kurz gefragt, ob Palmgren sie wohl auch nackt sehen wollte. Stattdessen hatte er angefangen, mit ihr zu reden, als wäre sie eine Erwachsene.
Dieser Monolog erstreckte sich über zwei Stunden. Sie reagierte kaum. Er erklärte ihr die Realitäten des Lebens, die darin bestanden, dass sie jetzt wählen konnte: Entweder sie wurde nach St. Stefans zurückgebracht, oder sie wohnte in einer Pflegefamilie. Er versprach, eine akzeptable Familie für sie zu finden, verlangte jedoch, dass sie seine Wahl dann auch gutheißen sollte. Außerdem hatte er beschlossen, dass sie die Weihnachtsfeiertage bei ihm verbringen sollte, um ein bisschen Zeit zu haben, über ihre Zukunft nachzudenken. Es sei hundertprozentig ihre eigene Entscheidung, aber am zweiten Weihnachtsfeiertag wollte er eine klare Aussage und ein Versprechen von ihr. Sie sollte ihm versprechen, dass sie sich ab jetzt an ihn wenden würde, wenn sie ein Problem hatte, statt einfach auszureißen. Danach war sie ins Bett gegangen, und er hatte sich offensichtlich hingesetzt, um die ersten Zeilen über Lisbeth Salander niederzuschreiben.
Die Drohung mit St. Stefans erschreckte sie mehr, als Holger Palmgren ahnen konnte. Ein ganzes unglückliches Weihnachten hindurch beobachtete sie misstrauisch jede Bewegung von Palmgren. Auch am 26. hatte er noch nicht angefangen, sie zu betatschen, und machte auch keine Anstalten, sie nackt sehen zu wollen. Im Gegenteil, er hatte extrem irritiert reagiert, als sie ihn provozierte, indem sie nackt von seinem Gästezimmer ins Bad spazierte - er warf mit einem lauten Knall die Badezimmertür hinter ihr zu. Schließlich hatte sie ihm das verlangte Versprechen gegeben. Und sie hatte Wort gehalten. Na ja, mehr oder weniger jedenfalls.
In seinem Tagebuch kommentierte Palmgren systematisch jedes Treffen mit Lisbeth. Manchmal benötigte er drei Zeilen, manchmal füllte er mehrere Seiten mit seinen Überlegungen. Stellenweise war sie wirklich verblüfft. Palmgren hatte mehr kapiert, als sie jemals geahnt hatte. Hin und wieder erwähnte er kleine Details, wenn sie versuchte, ihn anzuschmieren, und er sie durchschaute.
Dann schlug sie den polizeilichen Ermittlungsbericht von 1991 auf.
Und mit einem Schlag fielen alle Puzzleteilchen an ihren Platz. Ihr war, als würde der Boden unter ihren Füßen beben.
Sie las den rechtsmedizinischen Bericht eines Dr. Jesper H. Löderman, der sich
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