Verdammt feurig
S-Bahn-Fahren? Nikoläuse?«
»Weihnachten! Ich hasse Weihnachten! Das ist das schrecklichste Fest, das es überhaupt bei euch Menschen gibt, ein Fest voller Gefahren – und dann diese widerlichen Männer mit Bart und ihrem Hoho! Hoho, öffnet Tor und Tür für den Meister der Zeit!«
»Was hat denn Weihnachten mit dem Tod zu tun?« Es war das erste Mal, dass ich es Leander gegenüber aussprach. Ich wusste, wen er mit dem Meister der Zeit meinte, wenn er von ihm redete. Den Tod. Nur war mir nicht klar, ob wir Menschen all das darüber wussten, was Leander und die Wächter wussten. Im Gegenteil, ich wurde den Verdacht nicht los, dass er sehr viel mehr darüber wusste als wir.
»Tod und Verderben«, schnaubte Leander und wedelte mit den Armen. »Weihnachten ist das Fest des Todes!«
»Nein, eigentlich ist Weihnachten das Fest der Liebe.«
»Oh, das zeigt mal wieder, wie beschränkt euer Horizont ist. Ihr wisst echt gar nichts. Schau dich doch mal um! Deine Mutter ist das beste Beispiel dafür. Überall brennende Kerzen, geschmückt mit Tannenzweigen. Furztrockenen Tannenzweigen. Brennt wie Zunder, schon vergessen? Ihr legt es drauf an! Dann dieses fette Essen. Ungesund! Familienzusammenkünfte, Streit, falsche Geschenke, Herzinfarkte – muss ich ausgerechnet dir das wirklich noch erklären?!« Er deutete anklagend nach unten. Er lag gar nicht so verkehrt. An Weihnachten herrschte Hochkonjunktur in Papas Keller.
»Und das alles noch in der Grippezeit und gekürt von Silvester, wo jeder Krieg spielt und ihr Fleischstücke in siedendes Fett tunkt und nebendran die Papierservietten liegen habt … Hättet ihr euer beknacktes Weihnachten nicht auf einen anderen Termin verlegen können? In den Sommer oder so?« Er holte mit einem dramatischen Zittern Luft.
Ich verdrehte nur die Augen. Er hatte Angst vor Weihnachtsmännern. Das war lächerlich. »Themawechsel. Was ist da an der S-Bahn-Haltestelle passiert?«
Leander atmete noch einmal tief durch, schüttelte sich und nahm seinen gewohnten Platz auf dem Schreibtisch ein.
»Das …«, sagte er nachdenklich. »Das weiß ich selbst nicht genau.«
»Du bist wieder durchsichtig geworden, wie am Anfang.«
»Hast du mich noch gespürt?«, fragte er vorsichtig. »Meine Hand?«
»Ja – ja, ich glaube schon. Ein bisschen.«
»Und was hast du sonst noch gefühlt?«
»Ich war auf einmal so leicht«, erinnerte ich mich. »Ich hatte Kraft und Schwung, aber es kam mir sicher vor, sicher und losgelöst – es war wie Fliegen.«
»Du bist geflogen«, sagte Leander leise. »Wir sind beide geflogen. Merkwürdig. Ich muss darüber nachdenken.«
Und das tat er dann wie üblich in aller Ausführlichkeit (seufzend natürlich), während ich den ganzen Tag lang immer wieder an diesen kurzen, schönen, schwerelosen Moment denken musste und mich dabei schrecklich weihnachtlich fühlte. In der Wohnung roch es nach verbrannten Zimtsternen, Mama sang beschwingt Feliz Navidad, nachdem sie mit Papa selig lächelnd aus der Sauna zurückgekehrt war, und hängte überall grinsende Engel auf.
Und ich war vier Meter weit geflogen. Wenn ich das beim Parkour einsetzen konnte, würde ich alle in den Schatten stellen.
Sogar David.
Irrlichter
»Zum allerletzten Mal: Nein!«
»Aber wir könnten es doch wenigstens mal probieren – es hat einmal geklappt, vielleicht klappt es wieder …«
»Luzie Marlene Morgenroth«, grollte Leander. »Wenn ich Nein sage, meine ich Nein. Es ist zu gefährlich. Es könnte ein Zufall gewesen sein. Möglicherweise haben wir es uns nur eingebildet.«
»Ich hab dich nicht mehr gesehen. Basta. Und ich bin geflogen. Das habe ich mir ganz bestimmt nicht eingebildet. Und wenn wir das beim Parkour …«
»Schluss!« Leander sprang vom Schreibtisch und baute sich mit verschränkten Armen und blitzenden Augen vor mir auf. »Derartige Kräfte soll man nicht für menschliche Zwecke missbrauchen. Schmink es dir ab.«
Ich gab vorerst auf. Es war Heiligabend, um genau zu sein: der Vormittag von Heiligabend, und ich hatte Leander klargemacht, dass es etwas Schönes war, sich gegenseitig zu beschenken. Nachdem er das so einigermaßen verstanden hatte, wünschte ich mir von ihm, mich noch einmal fliegen zu lassen. Doch er war fast an die Decke gegangen vor Empörung, als ich meinen Wunsch aussprach. Im Moment ließ er sich nicht überreden. Aber es eilte nicht. Ich verschob das Thema auf später, obwohl ein paar Flugversuche eine wunderbare Möglichkeit gewesen wären, die
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