Verdammt feurig
Kaffee kochte. Ich strampelte mit den Beinen, um weiter zu steigen, doch etwas blockierte mich. Leanders Griff wurde fester.
»Runter! Verdammt, Luzie, denk an den Boden, über uns hängen Kinderbilder am Fenster! Boden!«
Ich hatte die anderen Wächter komplett vergessen. Sobald sie mich durch die Luft schweben sahen, war Leander enttarnt. Und vielleicht war es auch nicht ganz so gut, wenn die Menschen mich fliegen sahen. Also dachte ich schnell an den Asphalt unter mir und sackte herab. Die Landung war unsanft. Ich stürzte nach vorne, doch Leander warf sich unter mich, sodass ich weich auf seinen Körper fiel. Er hielt mich fest, bevor ich in die zugefrorene Pfütze neben uns rollen konnte.
»Alles gut?«, fragte er erschrocken und verzog das Gesicht. »Autsch, meine Schulter … mein Rücken … aaah …«
»Alles gut! Das war klasse!«, rief ich lachend. »Nun lass mich endlich los …«
Er nahm seine Hände weg und ich stand auf. »Es klappt – und wie! Das war noch viel besser als das letzte Mal – wenn wir das richtig miteinander trainieren …«
»Luzie, nein. Wir trainieren nicht. Es ist gefährlich. Einen halben Meter höher und die hätten mich gesehen. Ich fliegend mit einem Menschen an der Hand – nicht gut. Die würden mich auseinandernehmen.«
Leander war so ernst geworden, dass sich meine Freude in Beklemmung verwandelte. Auf einmal spürte ich die klirrende Kälte wieder und wollte nur noch nach Hause.
»Weißt du«, murmelte er, setzte sich auf und rieb seine Schulter. »Das kommt alles in mein Register, wenn es entdeckt wird. Ich leb wahrscheinlich noch ein paar Jahrzehnte länger als du. Und ich werde nie mehr einen guten Job kriegen, wenn das alles rauskommt.«
»Können wir jetzt nach Hause gehen?«, fragte ich kühl und lief voraus. Natürlich. Es war wie immer. Leander dachte nur an Sky Patrol und die Wächter um uns herum und seine berufliche Zukunft. Hatte ihm das Fliegen denn gar keinen Spaß gemacht? Gab es denn für ihn nichts anderes als seine Truppe und seine Ehre und seine Punktesammelei?
»Du wirst nie kapieren, was Weihnachten ist«, sagte ich so leise, dass ich meine Stimme selbst kaum hörte. Doch ich war mir sicher, dass Leander mich verstanden hatte.
Stille Nacht
»Doch, Rosa. Ich spüre es genau. Hier ist noch eine Seele im Raum … Wir sind nicht allein …«
Mama schnappte nach Luft und Papa grinste amüsiert. Mir aber lief es eiskalt den Rücken hinunter. Großmutter Anni war schon immer etwas verdreht gewesen. Sie hasste Amerika und alles, was irgendwie modern war. Sie wusch sogar ihre Wäsche noch mit der Hand. Außerdem hatte sie sich mit siebzig aus heiterem Himmel heraus dazu entschieden, Buddhistin zu werden, und in ihrem Altenheimzimmer kleine Altare aufgestellt, die sie jeden Tag mit Opfergaben schmückte. Diese Opfergaben bestanden meistens aus Essensresten, die dann munter vor sich hin schimmelten, bis Oma Anni sich sicher war, dass die Mächte des Universums ihre Gaben bemerkt hatten.
Jetzt aber hatte Oma Anni recht. Hier war wirklich noch jemand im Zimmer. Er saß zu meinen Füßen unter dem Tisch und knusperte schmatzend an einer Gänsekeule herum, die ich ihm unauffällig zugesteckt hatte, als Mama wieder einmal mit streikenden Kerzen beschäftigt war. Inzwischen hatte sie Angst vor diesem »Spuk« bekommen und fragte sich, ob die ausgehenden Kerzen ein Zeichen dafür seien, dass bald jemand von uns sterben würde. Als Oma Anni daraufhin locker sagte: »Keine Sorge, mein Kind, das werde ich sein«, wäre die weihnachtliche Stimmung beinahe gekippt. Papa aber tat genau das Richtige und legte schnell Feliz Navidad auf und Mama fing sich wieder.
Mama war heute Nachmittag nämlich schon zweimal in Tränen ausgebrochen. Einmal vor Freude, weil wir endlich, endlich ihre Weihnachtsplätzchen aßen (genau genommen nicht Papa und ich, sondern Leander), nachdem sie jahrelang umsonst gebacken hatte. Das zweite Mal heulte sie vor Wut, weil ihr Drei-Gänge-Menü bereits bei der Zubereitung der Vorspeise scheiterte. Deshalb musste jetzt unbedingt alles gut gehen. Und sie durfte auf keinen Fall mit Oma Anni Streit anfangen, denn die war sich ihrer Sache stets sehr sicher.
»Lach ruhig, Rosaleinchen. Ich fühle, was ich fühle. Und ich fühle eine kosmische Energie, die durch den Raum fließt. Ich fühle sie ganz deutlich …« Anni breitete ihre knochigen Arme aus und bewegte die Finger, als wolle sie danach greifen. Aber die kosmische Energie drückte mir
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