Verdammt
weit auf, sodass ein Gewehrlauf hindurchpasste. Ein Mann sagte etwas, was ich nicht verstand. Ich konnte lediglich das Gewehr anstarren und an das letzte Mal denken, dass ich eins gesehen hatte. Ich dachte an den Lichtblitz, die Kugel, die mich in die Brust traf …
Neil schlang die Finger um meinen Ellbogen. »Tu, was sie sagen«, flüsterte er.
Chad stand an der Wand gegenüber, das Gesicht zur Wand und mit erhobenen Händen. Wir taten es ihm nach.
»Beine breitmachen«, verlangte der Mann. »Die Hände hinter den Rücken. Eine Bewegung, und wir testen, ob ihr wirklich von den Toten wiederauferstehen könnt.«
Der zweite Mann kicherte.
Ich legte die Hände auf den Rücken. Sie fesselten uns und beorderten uns aus der Hütte. Ich konnte einen
kurzen Blick auf einen unserer Kidnapper werfen, doch es gab nicht viel zu sehen – nur einen Typen mit einer Halloween-Maske. Dracula. Wahrscheinlich fanden sie das witzig.
Sie brachten uns zu einem Van. Die Hintertüren standen offen, und das Innere war leer, abgesehen von einigen Flaschen Wasser und ein paar alten Decken. Wortlos stießen sie uns hinein und schlugen die Türen zu.
Es gab nur ein einziges Fenster – ein schmutziges Viereck in der Hintertür des Kastenwagens. Es ließ gerade genug Licht herein, dass wir einander sehen konnten. Nicht dass irgendjemandem momentan nach Geselligkeit zumute gewesen wäre. Chad hockte mit angezogenen Knien in einer Ecke. Neil saß auf der anderen Seite, den Rücken zur Wand, und starrte grüblerisch ins Leere. Keiner hatte ein Wort an mich gerichtet, seit wir eingestiegen waren.
Ich spürte die Last dieses Schweigens. Von Chad hatte ich es erwartet. Neil war mir anders erschienen, aber ich schätzte, das lag in der Natur der Sache. Er wusste, dass er eigentlich mit mir klarkommen müsste , weil er eines Tages auch ein Vampir sein würde. Jetzt, in der Stille, gewannen Gefühle die Oberhand, und er wollte nichts mehr mit mir zu tun haben.
»Es tut mir leid.«
Chads Stimme an meinem Ohr ließ mich zusammenzucken. Ich wandte den Kopf und sah, dass er zu mir aufgerückt war.
»Ich hab mich bescheuert benommen«, sagte er. »Es tut mir leid. Ich habe einfach … Ich war einfach völlig verblüfft.«
»Ist schon gut.«
»Ist es nicht, aber danke.«
Da lächelte er, ein träges Grinsen, das mir noch vor sechs Monaten Herzklopfen verursacht hätte. Jetzt konnte ich an nichts anderes mehr denken als daran, wie gut er roch. Nach Abendessen.
Ich sah weg.
»So«, sagte Neil und schreckte uns damit alle beide auf.
Er hob die Hände. Der Strick fiel ab, und er musterte stirnrunzelnd die Abschürfungen an seinen Handgelenken. Aus einer Stelle sickerte Blut. Ich roch es.
»Gut«, sagte Chad missmutig. »Kannst du uns dann unsere Fesseln auch abnehmen?«
»Das hatte ich vor.«
Als er uns losband, achtete ich darauf, nicht einzuatmen. Natürlich musste ich trotzdem ununterbrochen an das Blut an seinem Handgelenk denken. Ich konnte nichts dagegen tun. Doch es brachte mich auf eine Idee. Für die Flucht.
Ich schilderte sie den beiden. Chad sprang sofort darauf an. Neil nicht. Wir diskutierten über Alternativen, aber ihm wollte keine einfallen, und schließlich erklärte auch er sich einverstanden.
Der Wagen bog mit quietschenden Reifen um eine Ecke und holperte einen Feldweg entlang, während Chad an die Wand hämmerte und um Hilfe rief. Ruckartig kam der Wagen zum Stehen. Die Beifahrertür ging auf und wurde sofort wieder zugeschlagen. Chad verstummte. Er lag auf dem Boden, während ich mich über ihn beugte und den Mund dicht über seinem Hals schweben ließ.
Ich hörte das Blut durch Chads Venen pulsieren. Ich hörte es, fühlte es, sah es, sah den Puls an seinem Hals hektisch schlagen, dort, wo das Blut so dicht unter der Haut strömte, dass ich es riechen konnte. Meine Reißzähne waren ausgefahren. Ich wich zitternd zurück und schloss instinktiv die Augen, um mich darauf zu konzentrieren, sie zurückzuziehen, doch dann stoppte ich den Vorgang. Das war doch der Plan, oder? Reißzähne, das volle Programm.
Und so kauerte ich da, über Chads Hals, die Reißzähne in meine Unterlippe gepresst, und versuchte ihn anzuschauen, ihn so zu sehen, wie ich ihn vor sechs Monaten gesehen hätte, zu registrieren, wie sich seine dunklen Wimpern über den Wangen bogen, den sexy Hauch von Bartstoppeln, die vollen Lippen … Doch ich sah nur das Blut, das unter seiner Haut pulsierte, so nah, dass ich es schmecken konnte.
Weitere Kostenlose Bücher