Verflixte Liebe
Oma!“, rief Milena und winkte mit beiden Händen.
Als Johanna Rosmann das Auto ihrer Tochter ankommen sah, verfinsterte sich ihr Blick noch ein wenig mehr. „Na endlich, da seid ihr ja!“
Christiane stieg aus, befreite Milena aus dem Kindersitz, und half ihr aus dem Wagen. Fröhlich stürmte die Kleine auf ihre Oma zu, eine Oma, die ihrem Namen wenig Ehre machte.
Johanna Rosmann war 48 Jahre alt, hatte, wie ihre Tochter, langes, dunkles Haar und eine Figur, die sich durchaus mit der Christianes messen konnte. Dass die beiden Mutter und Tochter waren, darauf kam keiner, eher hielt man sie für Schwestern oder Kusinen.
„Hallo Oma!“ Milena warf sich in Johanna Rosmanns Arme und drückte ihr einen feuchten Kuss auf die Wange.
„Du sollst doch nicht immer Oma zu mir sagen!“
„Aber wie denn dann?“
„Na, ich hab' doch einen Namen. Sag Johanna.“
„Alle meine Freundinnen sagen Oma zu ihrer Oma. Wenn ich Johanna sage, dann weiß ja niemand, dass du meine Oma bist!“
„Eben.“ Johanna sah von Milena zu ihrer Tochter. Ein Hauch von Vorwurf lag in ihrem Blick. Dass sie selbst mit 20 Jahren Mutter geworden war, war ihr schlimm genug erschienen. Dass Christiane sie bereits mit 42 Jahren zur Großmutter gemacht hatte, hat sie ihr nie verziehen.
Während sie ins Haus gingen, erzählte Milena ihrer Oma vom Zirkus. „Und am schönsten waren die Ponys! Du hast doch einen Garten? Wenn Mami mir ein Pony kauft, dann könnte es doch in deinem Garten Gras fressen und bräuchte auch keine Treppen rauf?“
Was Johanna darauf antwortete, hörte Christiane nicht mehr, denn inzwischen hatte sie den Briefkasten geöffnet, und ein Brief war ihr entgegengefallen, auf dem ein Aufkleber prangte:
Einschreiben Einwurf
! Und die Marke war italienisch.
Diese Erkenntnis durchzucke sie wie ein Messerstich, und noch bevor sie den Brief umdrehte und den Absender las, wusste sie, er kam aus Sizilien von Tommaso oder seiner Familie.
„Was ist? Du bist plötzlich so blass?“ Johanna sah ihrer Tochter über die Schulter, und starrte den Brief nun ebenfalls an. „Marcello Forell, Palazzo Giardini, Bagheria“, las sie den Absender. Dann sah sie auf, und ihre Tochter an. „Milenas Großvater? Was will er wohl von dir?“
Christiane schob den Brief schnell in die Tasche.
„Wer hat denn da geschrieben, Mami?“ Milena spürte, dass dieser Brief ein besonderer war.
„Er kommt aus Italien. Vermutlich von einem Amt“, antwortete sie ausweichend. „Ist wohl nicht so wichtig, wir lesen ihn später!“
Droben schickte sie Milena mit der Oma zum Spielen und zog sich selbst mit dem Brief zurück. Eine Weile lang starrte sie ihn an. Die Handschrift steil und eckig, die Buchstaben wie Soldaten aneinander gereiht. Ja, sie kannte diese Handschrift, denn schon einmal hatte sie von Tommasos despotischem Vater einen Brief bekommen!
Sie zitterte, als sie das Kuvert öffnete, war sicher, dass es eine Hiobsbotschaft sein würde. Wie sie diesen Mann verabscheute! Ein Mensch, der sich gottgleich über andere erhob, und erwartete, dass man blind seinen Anordnungen folgte. Damals, vor sechs Jahren, hatte er sich zwischen sie und Tommaso gestellt und geglaubt, er könne sie mit Geld abfinden - warum sollte da plötzlich etwas Gutes von ihm kommen?
„Sehr geehrte Frau Rosmann!“, las sie die erste Zeile und stockte, denn der Brief war in Deutsch geschrieben, obwohl sie perfekt Italienisch sprach. Wäre der Schreiber irgendjemand gewesen, hätte sie es für eine höfliche Geste gehalten, aber wenn Marcello Forell ihr in Deutsch schrieb, dann um ihr zu zeigen, dass er ein Entgegenkommen ihrerseits nicht nötig hatte.
Sie begann noch einmal:
Sehr geehrte Frau Rosmann! Am 19 November des Jahres kamen unser Sohn Tommaso und seine Frau Roberta bei einem Autounfall ums Leben. Da uns Gott nur diesen einen Sohn geschenkt hat, und Tommasos Ehe nicht mit Kindern gesegnet war, ist seine Tochter Milena nun die einzige Erbin der Forell.
Fassungslos brach Christiane ab. Ihre Augenlider zuckten, wie immer, wenn sie sich aufregte. Und jetzt regte sie sich auf! „Seine Tochter!“ flüsterte sie. Ihr Herz raste vor Empörung. Dieser Mann wagte es, Milena 'Tommasos Tochter' zu nennen. Jetzt plötzlich, nach all den Jahren des Schweigens!
Sie zwang sich weiterzulesen:
Darum möchten wir das Kind kennen lernen. Nennen Sie uns einen Zeitpunkt, und wir schicken Ihnen postwendend zwei Flugtickets München-Palermo.
In der Hoffnung, Sie und unser Enkelkind bald
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