Verführer der Nacht
Ich konnte einfach nicht dagegen an. Den Ausdruck auf ihrem Gesicht vergesse ich nie.« Er schaute zu seiner kleinen Schwester, die immer noch übte.
Colby räusperte sich, um den Kloß zu vertreiben, der ihr in der Kehle steckte. »Ginny ist kein Kleinkind mehr, Paulo. Und Nicolas hat ihr diese Erinnerung genommen. Du hast dein Bestes gegeben, und mehr kann niemand von dir verlangen.«
»Mir hat der Vampir das Herz aus der Brust gerissen«, gestand Rafael. »Du wusstest es, konntest es fühlen, aber was du nicht wusstest, war, dass ich Colby bereits an mich gebunden hatte. Wenn ich gestorben wäre, wäre sie mir irgendwann gefolgt. Also, wenn sich hier jemand schämen muss, dann bin ich es, nicht du. Wir könnten nicht stolzer auf dich sein.«
»Hat mir Nicolas deshalb erlaubt, etwas über das Volk der Karpatianer zu erfahren?«
Rafael nickte. »Und wir hoffen, dass auch Ginny eines Tages versteht, was ihre Schwester ist. Und dass ihr beide immer in unserer Nähe bleibt, hier in diesem Land und bei eurer Familie.«
Ein schwaches Grinsen erhellte Pauls Gesicht. »Habt ihr vor, mich mit einer Nichte oder einem Neffen zu beglücken, damit es sich auch lohnt?«
Colby gab ihm einen Klaps. »Sehr witzig. Ich bin immer noch dabei, mich an all das zu gewöhnen.«
»Ginny wünscht sich eine Hochzeit in Weiß und mit allem Drum und Dran«, verkündete Paul.
Nicolas trat zu ihnen. »Alle Frauen scheinen sich diese Zeremonie zu wünschen. Warum bloß? Juliette, Riordans Gefährtin, hat das Thema schon ein paar Mal zur Sprache gebracht, aber mir kommt es völlig sinnlos vor.«
Paul grinste. »Das glaube ich gern, Nicolas.« Dass er so unbefangen mit Nicolas scherzte, überraschte Colby, und noch mehr erstaunte es sie, als sie sah, wie Nicolas ihren Bruder in den Arm boxte. Paul grinste bloß und bemerkte von oben herab: »Frauen machen sich gern zurecht.«
»Ich nicht«, behauptete Colby entschieden. »Niemand wird mich dazu bringen, Rafael vor Gott und der Welt Gehorsam zu geloben.«
Rafael zog eine Augenbraue hoch. »Zu dieser Hochzeitszeremonie gehört das Versprechen, seinem Mann zu gehorchen? Paul, wir müssen uns unterhalten.«
»Das wird nie passieren«, erklärte Colby.
»Paul!« Juan winkte den Jungen zu sich.
Paul lief sofort zu seinem Onkel und hörte ihm aufmerksam zu.
Colby konnte kaum ihre Augen von ihren Geschwistern lassen. »Hat einer von euch etwas von Vikirnoff gehört? Wo ist er? Wohin wollte er? Ich konnte mich nicht einmal bei ihm bedanken, nachdem er so viel für Rafael getan hatte.«
»Er sucht die Frau, Natalya Shonsky«, antwortete Nicolas. »Ich glaube, er ist unterwegs in die Karpaten.«
»Habt ihr schon mal daran gedacht, dorthinzufahren?«, fragte sie neugierig.
»Irgendwann werden wir es tun«, sagte Rafael. »Aber jetzt ist das hier unsere Heimat.«
Colby kuschte dem Klang von Pauls Lachen, der mit seinem Onkel herumblödelte. All das war in ihrem früheren Leben zu kurz gekommen. Sie beobachtete, wie Juan liebevoll einen Arm um Pauls Schultern legte. Julio applaudierte Ginny und feuerte sie an. Beide Kinder wirkten viel gelöster, als Colby sie je gesehen hatte. Als sie sich wieder zu Rafael umwandte, stellte sie fest, dass er sie forschend aus seinen faszinierenden dunklen Augen ansah.
»Ist alles gut?«, fragte er.
»Sehr gut«, antwortete sie.
Weitere Kostenlose Bücher