Verführerische Julia
„Ja, natürlich.“
„Aber das weiß ich doch schon lange“, sagte Sally trocken. „Auch wenn du es auf der Hochzeit noch nicht zugeben konntest. Es freut mich, dass du es endlich aussprichst.“
Nervös begann Julia, an ihrem Glas herumzufummeln. „Leider liebt er mich aber nicht, Sally. Jedenfalls weigert er sich, es auszusprechen.“
„Wie bitte?“ Stirnrunzelnd ließ Sally sich in ihrem Stuhl zurücksinken. „Aber natürlich tut er das, meine Liebe. Sogar sehr! So wie er dich immer ansieht … Ich habe ihn noch nie so glücklich erlebt.“
„Und warum weigert er sich dann, es zu sagen?“
Nachdenklich hob Sally ihr Glas und trank einen Schluck. „Also spricht er nicht darüber, ja?“
„Nein.“ Julia vergrub ihr Gesicht in den Händen. „Und ich komme mir so dämlich vor. Vor der Hochzeit haben wir uns darauf geeinigt, dass keine Liebe im Spiel ist. Aber ich komme einfach nicht damit zurecht.“
„Ihr habt was?“ Nun klang Sally ernsthaft schockiert.
„Oh, ich weiß schon, was du jetzt denkst. Aber damals schien das Sinn zu machen. Wir haben geheiratet, damit Jake Eltern hat, die zusammenleben. Und ich für meinen Teil war so froh, eine Familie zu haben, dass ich zu allem bereit war.“
„Ach, Schätzchen.“ Sally schniefte gerührt.
„Nur dass ich jetzt feststellen musste, dass ich Cameron eben doch liebe. Und als ich ihm das gestanden habe, hat er einfach darauf beharrt, dass er meine Gefühle nicht erwidert. In jeder anderen Hinsicht sind wir aber überglücklich. Und jetzt weiß ich nicht, ob ich nicht vielleicht einfach aufhören sollte zu jammern. Ob ich nicht zufrieden sein sollte mit dem, was ich habe.“
Julia richtete sich auf und sah ihrer Schwiegermutter entschlossen in die Augen. „Aber ich kann es einfach nicht. Vor der Hochzeit dachte ich, dass ich auch ohne Liebe glücklich werden könnte. Aber ich will alles, Sally. Ich will, dass er mich liebt.“
„Aber Julia!“ Sally sprang auf und kniete sich neben ihre Schwiegertochter, um ihr den Rücken zu streicheln. „Er liebt dich doch! Glaub mir, ich kenne meinen Sohn in- und auswendig. Es mag zwar schwer sein, ihn in den Griff zu bekommen, aber er ist die Mühe wert.“
„Das ist er allerdings“, erwiderte Julia und schluckte mühsam ihre Tränen herunter.
„Vielleicht solltest du dir einfach nicht so viele Gedanken machen.“
„Das versuche ich doch.“
„Sehr gut. Aber offenbar musst du es noch ein bisschen mehr versuchen.“
Julia lachte auf. Dann ergriff sie Sallys Hand und drückte sie. „Und jetzt muss ich dir noch eine ernste Frage stellen. Versprichst du mir, dass das unter uns bleibt?“
„Aber natürlich.“
Julia biss sich nervös auf die Lippe. Dann holte sie tief Luft und stellte die Frage, wegen der sie eigentlich gekommen war. „Gibt es einen Grund dafür, dass Cameron solche Angst vor der Liebe hat? Ich muss einfach wissen, ob es an mir oder an ihm liegt.“
„Oje“, murmelte Sally und erhob sich. Unruhig begann sie, in der Küche auf und ab zu laufen. „Armer Cameron. Jetzt, wo du es sagst, kommt mir der Verdacht, dass all das mit seinem Vater zu tun haben könnte. Er war ein fürchterlicher Mann. Ich habe nie die ganze Geschichte erfahren, weil die Akte unter Verschluss war, aber ich weiß, dass er gewalttätig war. Soviel ich weiß, hat er Camerons Mutter umgebracht und danach sich selbst das Leben genommen.“
Schockiert sah Julia sie an. „Das ist ja schrecklich! Cameron hat seine Vergangenheit mit keinem Wort erwähnt!“
„Das sieht ihm ähnlich. Aber glaub mir, als ich ihn zu mir geholt habe, war er todunglücklich und schwer traumatisiert.“
„O Gott“, flüsterte Julia, während sie sich den traurigen kleinen Jungen vorstellte, der Cameron früher einmal gewesen sein musste.
„Im Abschlussjahr auf der Highschool hat er dann ein Mädchen kennengelernt.“ Nachdem sie Julia die gesamte Geschichte über Wendy erzählt hatte, schloss sie: „Er hat immer sich selbst die Schuld daran gegeben, dass sie ihn so schrecklich behandelt hat.“
„Aber das ist doch einfach nicht fair“, rief Julia empört.
„Nein, aber so ist Cameron nun mal. Ich werde nie vergessen, als er mir sagte, dass all das seine Schuld sei und der Apfel wohl doch nicht weit vom Stamm falle.“
„Aber das ist doch Unsinn! Es gibt wohl kaum einen friedliebenderen Menschen als Cameron! Wieso hält er sich selbst für gewalttätig?“
Sally lächelte. „Ich schätze, die Angst sitzt bei ihm
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