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Kopfloser Sommer - Roman

Kopfloser Sommer - Roman

Titel: Kopfloser Sommer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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    In der Mitte meines Bildes steht ein Haus. Ein bisschen sieht es so aus wie das Haus, in dem wir wohnen, nur ist es größer und älter und noch ein wenig verfallener. Es erinnert ein wenig an eine mittelalterliche Burg. Rund um die Burg zieht sich ein Wallgraben, und dahinter liegt ein Wald. Zwischen den Bäumen gibt es Menschen und Tiere, die meisten sind kopflos. Es ist gut möglich, dass ich die Köpfe später einklebe, aber nicht dahin, wo sie hingehören. Vielleicht setze ich die Menschenköpfe auf die Tiere und umgekehrt, aber sie könnten auch auf der Erde gestapelt werden, wie Kanonenkugeln. Ich werde es einfach ausprobieren. Es ist erst neun, ich bin schon ziemlich weit und habe den ganzen Abend noch vor mir.
    Die Abende scheinen länger zu werden, wenn man auf dem Land wohnt; man lernt, sich selbst zu beschäftigen. Ich kann ein bisschen zeichnen und malen, und im Moment bastele ich an einer Collage, die zeigen soll, wo wir wohnen. Aber alles ist verzerrt und übertrieben wie in einem Gruselfilm. Unser Haus ist keine Burg, und selbstverständlich zieht sich auch kein Wallgraben drum herum. Und soweit ich weiß, liegen bei uns im Garten auch keine abgeschlagenen Köpfe. Trotzdem soll man auf der Collage erkennen können, dass es sich um unser Haus handelt. Es ist wirklich nicht einfach, aber ich gebe nicht so leicht auf. Und ich habe auch schon einen Titel, die Collage soll ›Die Familie zieht aufs Land‹ heißen. Wenn es fertig ist, werde ich das Bild Mutter schenken.
    Ich summe vor mich hin. Auf dem Schreibtisch liegt ein Stapel alter Zeitschriften und Modemagazine, und während esdraußen allmählich immer dunkler wird, schneide ich Bilder aus und klebe sie auf. Nur, wie krieg ich die Collage richtig gruselig? Soll ich das Familienalbum benutzen? Darin steckt ein Foto, das letztes Jahr aufgenommen wurde, vor der Scheidung meiner Eltern ‒ wir stehen zu viert zusammen und umarmen uns. Wir sehen sehr glücklich aus. Könnte interessant sein, das Foto zu verwenden. Ich könnte die Köpfe austauschen, wie würde das aussehen? Mutter und Vater könnten sich an den Haaren ziehen, sie könnten sich die Köpfe abreißen und damit herumschmeißen. Die Scheidung würde es ziemlich gut beschreiben. Denn was sagt mein Kunstlehrer immer? Wenn der Anlass eines Bildes von etwas Selbsterlebtem ausgeht, dann wirkt es besser. Aber es muss sich um ein wirklich bedeutendes Ereignis für den Künstler handeln, sonst wird es auch dem Betrachter nichts sagen.
    Ich bin mitten in der Arbeit, als mein kleiner Bruder anfängt zu heulen. Er hat wieder Albträume ‒ wie so oft zurzeit. Kaum haben wir ihn zu Bett gebracht, setzt er sich auf und ruft tränenerstickt nach Vater. Und dann müssen Mutter oder ich ihn trösten. Manchmal dauert es eine ganze Weile, denn er versteht nicht, warum Vater nicht mehr bei uns wohnt.
    »Emilie?«, ruft Mutter aus dem Wohnzimmer. Ich tue so, als hätte ich nichts gehört, und hoffe, dass sie nach ihm sieht. Aber es geschieht nichts, und Jacobs Weinen wird heftiger. Jetzt ruft sie noch einmal, lauter. Schließlich stehe ich auf, schimpfe leise vor mich hin und gehe in den Flur. Die Tür zum Wohnzimmer steht offen, Mutter blickt von ihrem Computer auf und lächelt mir zu.
    »Danke, Schatz. Ich bin nur gerade bei der Arbeit.«
    Als ob es bei mir anders wäre. Doch ihre Arbeit ist natürlich wichtiger, jedenfalls für sie. Sie hat eine Deadline und muss morgen Mittag um zwölf einen Artikel abliefern. Wieimmer hängt sie hinterher. Wieso kommt sie eigentlich nie auf die Idee, mal früher anzufangen?
    Ich bleibe an Jacobs Zimmertür stehen und sage kein Wort. Weil ich nicht sicher bin, ob er wieder eingeschlafen oder tatsächlich wach ist. Jacob liegt ganz ruhig im Bett und starrt an die Decke. Vielleicht hat er im Schlaf geweint und schläft mit offenen Augen weiter, das ist schon öfter vorgekommen.
    »Falscher Alarm«, teile ich Mutter auf dem Rückweg mit.
    »Das nächste Mal bin ich dran«, verspricht sie.
    Ich gehe in mein Zimmer und arbeite weiter. Immer wieder kontrolliere ich mein Handy, das auf dem Tisch liegt. Ich würde mich über einen Gruß von Amalie freuen. Wir haben uns versprochen, auch während der Sommerferien in Kontakt zu bleiben. Amalie ist meine beste Freundin und im Moment mit ihrem Vater in Portugal. Ich verreise dieses Jahr nicht, ich muss mit meiner Mutter und meinem kleinen Bruder hierbleiben, um mich ›einzugewöhnen‹, wie Mutter es nennt. Und ich soll mich auch

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