Verfuehrung in aller Unschuld
Signorina Knight. Maria bringt Sie in Ihr Zimmer.“
Lucy versuchte sich einzureden, dass die Miene ihres Gastgebers keine Genugtuung verriet, als sie an ihm vorbeiging.
„Nein, ich kann jetzt nicht reden. Ich bin beschäftigt.“ Sylvias Stimme klang schrill vor Ärger, aber auch irgendwie ängstlich.
Lucys klamme Finger schlossen sich fester um den Telefonhörer.
„Ich wollte nur …“
„Ich aber nicht. Lass mich einfach in Ruhe. Hast du dieser Familie nicht schon genug angetan?“ Es klickte, und die Leitung war tot.
Lucy wusste nicht, wie lange sie so dasaß, den Hörer ans Ohr gepresst, bevor sie schließlich mit steifen Fingern auflegte. Traurig schlang sie die Arme um sich.
Das war’s, dachte sie benommen. Alle Verbindungen gekappt.
Aus der Tiefe ihrer Seele stieg ein schmerzerfüllter Schluchzer auf, den sie mühsam unterdrückte. Es war besser, wenn sie die Wahrheit jetzt erfuhr und nicht erst auf der rosenumrankten Schwelle des weiß getünchten Hauses, das einst ihr Zuhause gewesen war.
Sie hatte ihre Stiefmutter in der verzweifelten Hoffnung angerufen, dass es sich bei dem vernichtenden Artikel um ein scheußliches Missverständnis handelte, doch es war eine Illusion gewesen.
Nichts war ihr geblieben, gar nichts. Kein Ort, an den sie gehen konnte, kein Mensch, der zu ihr hielt. Nur eine belastende Vorgeschichte, die ihr im Nacken saß und sie nicht losließ.
Langsam hob sie den Blick zu der massiven Holztür, die auf den Korridor hinausführte.
Es war höchste Zeit, den Geistern der Vergangenheit ins Auge zu sehen.
3. KAPITEL
Sie war nicht in ihrem Zimmer, aber sie hatte auch nicht versucht, das Haus zu verlassen, sonst hätte Domenicos Sicherheitspersonal ihn informiert. Es gab nur einen Ort, an dem Lucy sein konnte.
Mit großen Schritten eilte er den Korridor entlang zum Seitenflügel des Palazzos. Der Gedanke, dass Lucy Knight sich in dem Raum aufhalten könnte, in dem sie Sandro getötet hatte, erfüllte Domenico mit rasendem Zorn. Wie konnte sie die Gefühle der trauernden Angehörigen so mit Füßen treten?
Die Tür stand offen. Mit geballten Fäusten und bebend vor Wut trat er ein.
Als er sie erblickte, blieb er unvermittelt stehen.
Was auch immer er erwartet hatte, das war es nicht. Lucy Knight kauerte auf dem Boden vor dem stuckverzierten Kamin, die Hände an der Stelle auf das Parkett gepresst, wo Sandro sein Leben ausgehaucht hatte.
Ihr Gesicht war aschfahl, ihre Augen, groß und dunkel, blickten ins Leere. Sie schien etwas zu sehen, was er nicht wahrnahm, gefangen in ihrer eigenen Welt.
Schaudernd trat er näher.
Da hob sie den Kopf und sah ihn an. Was er in ihren Zügen las, erschreckte ihn. Verschwunden war die streitbare Amazone, die wütend auf ihn losgegangen war, als er sie anzurühren wagte. Vor ihm hockte eine Frau, deren Gesicht von abgrundtiefem Schmerz gezeichnet war, so unverhüllt, dass allein ihr Anblick ihn schmerzte.
Domenico war erschüttert. Der Zorn, der ihn hierhergetrieben hatte, wurde von so etwas wie Mitleid verdrängt.
„Es tut mir leid“, flüsterte Lucy. „Es hätte niemals passieren dürfen. Ich war so jung und so dumm …“ Wieder betrachtete sie das Parkett unter ihren Händen. „Ich hätte ihn niemals hereinlassen dürfen.“
Mit zwei Schritten war Domenico bei ihr und hockte sich neben sie. Gab sie es etwa zu? Nach all den Jahren?
„Wenn ich ihm nicht aufgemacht hätte, wäre das alles nichts passiert.“ Bebend atmete sie ein. „Ich hätte die Tür abschließen sollen.“
Domenico runzelte die Stirn. „Sie hatten keinen Grund, meinen Bruder auszusperren. Er hätte sich Ihnen nie aufgedrängt.“
Sein Bruder war ein anständiger Mensch gewesen. Etwas ungeschickt bei der Wahl seiner Ehefrau vielleicht, aber ein Ehrenmann. Ein liebender Bruder und guter Vater, der den Fehler gemacht hatte, auf eine schöne, gerissene Verführerin hereinzufallen. Aber kein Mann, der sich an seinem weiblichen Personal vergriff!
Lucy Knight wirbelte zu ihm herum. „Ich meine nicht Ihren Bruder. Ich meine den Leibwächter, Bruno.“ Der Name kam ihr offenbar nur mit Mühe über die Lippen.
Bitter enttäuscht sprang Domenico auf.
„Sie bleiben bei Ihrer Geschichte?“
Beinah bedauernd beobachtete er, wie die Weichheit und Verletzlichkeit ihrer Züge hinter einer Mauer aus Abwehr verschwand. Schon war Lucy Knight wieder die zornige junge Frau, die der ganzen Welt die Stirn bot. Selbst hingekauert zu seinen Füßen, strahlte sie eine
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