Verfuehrung in aller Unschuld
Gefühl, sie im Stich gelassen zu haben.
Weil sie ihn wie ein waidwundes Reh angesehen und den tobenden Mob seiner Gesellschaft vorgezogen hatte?
Unsinn. Nüchtern betrachtet, sprach alles dafür, dass sie ihre Strafe verdient hatte. Nur manchmal, mitten in der Nacht, überkamen ihn Zweifel …
Aber er war nicht Lucy Knights Beschützer. War es nie gewesen.
Obwohl sie ihn mit ihrer frischen, natürlichen Art einmal sehr bezaubert hatte. Weil sie so anders war als die abgeklärten, weltgewandten Frauen aus seinem Bekanntenkreis. Bis er gemerkt hatte, wer sie wirklich war. Eine Heuchlerin, die ihn genauso umgarnen und ausnutzen wollte, wie sie es mit seinem Bruder getan hatte.
Er dachte an ihre großen, verschreckten Augen, blau wie Vergissmeinnicht. Hatte sie Angst vor ihm?
Nein, so leicht ließ er sich nicht täuschen.
Obwohl er zu seiner Schande gestehen musste, dass er sich damals, als er Lucy Knight Tag für Tag mit Unschuldsmiene auf der Anklagebank sitzen sah, auf rätselhafte Weise zu ihr hingezogen gefühlt hatte. Er hatte sich dafür gehasst.
„Eine richtige Wildkatze ist das, Boss. Alle Achtung …“
„Schließen Sie die Wagentür, Rocco.“
„Ja, Signor.“ Der Bodyguard ließ die Schultern sinken und gehorchte.
Domenico lehnte sich zurück und rieb sich ärgerlich das Kinn. Er hätte fluchen mögen, weil Pia ihn in diese Lage gebracht hatte. Was konnte die Presse ihnen schon anhaben? Aber Pia war einfach zu labil.
Viel mehr als der Medienrummel beunruhigte ihn allerdings die Frau, um die es ging. Lucy Knight. Wie sie ihn angesehen hatte!
Sie hatte sich verändert. Mit dem kurzen Haar wirkte sie forsch und selbstbewusst, nicht mehr so sehr wie ein Unschuldsengel. Ihre feinen Gesichtszüge waren stärker ausgeprägt als früher und bemerkenswert schön. Und sie verrieten einen starken Willen.
Es war mutig von ihr, sich der gierigen Meute auszuliefern. Zumal in ihrer rauen Schimpftirade nicht nur Zorn, sondern auch Verzweiflung mitgeklungen hatte.
Während der langen Wochen vor Gericht hatte sie keine Miene verzogen. Wie hatte sie ihr feuriges Temperament und ihren glühenden Hass nur so perfekt unter Kontrolle gehalten?
Oder – der Gedanke traf ihn wie ein Blitzschlag – hatte sie diese gefährlichen Emotionen erst in den letzten Jahren entwickelt?
Am klügsten wäre es, Pias Bitte und seine Gewissensbisse zu ignorieren und zu machen, dass er davonkam. Lucy Knight hatte nichts als Unheil über seine Familie gebracht, seit sie zum ersten Mal einen Fuß über deren Schwelle gesetzt hatte.
„Fahren Sie los“, wies Domenico seinen Chauffeur an.
Noch zwanzig Minuten bis zur Abfahrt des Busses.
Würde sie so lange durchhalten? Immer dichter wurde das Gedränge. Es kostete Lucy große Mühe, so zu tun, als ginge sie das alles nichts an – die Kameras, die Pfiffe, die dreisten Rempeleien.
Obwohl ihr der Arm wehtat, stellte sie den Koffer mit ihren wenigen Habseligkeiten nicht ab. Die Paparazzi hätten sicher keine Hemmungen gehabt, ihre Unterwäsche zu durchwühlen und aufgrund der wenigen zerfledderten Bücher, die sie besaß, ein psychologisches Profil zu erstellen.
Ihr Ton wurde deutlich schärfer, als sie merkten, dass ihr vermeintlich leichtes Opfer nicht mitmachte. Immer mehr Leute blieben stehen, um die Szene zu beobachten, und vereinzelt wurden Unmutsbekundungen laut.
Lucy wusste, wie leicht die aufgeheizte Stimmung in Aggression umschlagen konnte.
Als sie schon im Begriff war, den Bus zu vergessen und das Weite zu suchen, ging ein Ruck durch die Menge, und der Lärm erstarb.
Die Kameras schwenkten ab und nahmen den Mann ins Visier, von dem Lucy geglaubt hatte, sie würde ihn nie wiedersehen: Domenico Volpe. Energischen Schrittes kam er auf sie zu, ohne die hektisch fotografierenden Reporter auch nur eines Blickes zu würdigen.
In seinem anthrazitfarbenen Anzug, dem blütenweißen Hemd und mit der dezenten Krawatte war er der Inbegriff des erfolgreichen Geschäftsmanns. Nicht der Hauch eines Fältchens trübte seine makellose Kleidung oder sein attraktives Gesicht. Nur der lodernde Blick, mit dem er sie fixierte, passte nicht ganz ins Bild.
Glühende Hitze stieg in ihr auf, als Lucy ihm in die Augen sah. Daher konzentrierte sie sich lieber auf seine ausgestreckte Hand und faltete verblüfft den Zettel auseinander, den er ihr gab.
Kommen Sie mit , lautete die schwungvoll mit schwarzer Tinte geschriebene Botschaft. Ich bringe Sie von hier weg. Bei mir sind Sie
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