Vergeben, nicht vergessen
bewachsenen Hügeln zwischen den auseinander klaffenden Kämmen mündete. Er atmete die frische Luft ein, die so rein war, dass ihm davon die Lunge brannte. Um der Wahrheit Genüge zu tun, brannte sie heute bereits weniger als gestern noch. Schon bald würde die reine Bergluft in zweitausend Meter Höhe ihm völlig normal erscheinen. Gestern erst war ihm aufgefallen, dass er den ganzen Tag nicht einen Gedanken an Telefon, Fernseher, Radio, Faxgerät und die Geräusche aus den umliegenden Büros verschwendet hatte, aus denen heraus Menschen ihn mit Fragen überhäuften. Und an diese grässlich blendenden, ständig gegenwärtigen Blitzlichter. Endlich begann er abzuschalten und zumindest ab und an das zu vergessen, was vorgefallen war.
Er blickte über das Tal hinweg auf das raue Bergmassiv, das sich endlose Kilometer weit in der Form unregelmäßiger Zähne ausdehnte. Herr Goudge, der Besitzer der Union-Gas-Tankstelle unten in Dillinger, hatte ihm erzählt, dass viele der hier Ansässigen, darunter zahlreiche Ursiedler, die Ansammlung zackiger Bergspitzen als Ferengi-Massiv bezeichneten. Der höchste Gipfel brachte es auf viertausend Meter und kippte ein wenig Richtung Süden ab, was ihm das Aussehen eines verunglückten Phallus verlieh. Er hatte nicht die Absicht, einen Berg mit einer so offensichtlichen Form zu besteigen. Die Leute unten in Dillinger witzelten über diesen
Gipfel und erzählten, was für ein prachtvoller Anblick es sei, wenn im Frühjahr der Schnee herunterrutschte.
Wie so oft zuvor wurde er sich der Tatsache bewusst, dass er ganz und gar alleine war. Auf der Erhöhung, auf der er sich befand, wuchsen dichte Koniferenwälder, hauptsächlich Birken und Tannen und mehr Ponderosakiefern, als man hätte zählen können. Auch Zittergras gab es reichlich. Nicht eine einzige der Holzrodungsfirmen hatte jemals dieses Land überfallen. Auf der anderen, noch höher gelegenen Seite des Tals wuchsen weder Bäume noch Blumen, so wie auf seiner Alpenwiese. Dort gab es nur Schnee und unberührte Natur, jede Menge wilder Schönheit, die von keiner Menschenhand jemals angefasst worden war.
Er blickte in Richtung des kleinen Ortes Dillinger am Ende des Tals, das sich unter ihm von Osten nach Westen streckte. Tausenfünfhundertdrei Menschen lebten dort. In den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts hatten die Silberminen es zu einer rasch expandierenden Ortschaft gemacht. Damals hatten annähernd dreißigtausend Menschen das Tal fast zum Bersten gebracht - Bergarbeiter, Prostituierte, Ladeninhaber, Verbrecher, dann und wann ein Sheriff und ein Priester, wenig Familien. Das gehörte schon lange der Vergangenheit an. Die Nachfahren der Leute, die nach dem Schließen der Silberminen geblieben waren, kümmerten sich heute um den kärglichen Zugang der Sommertouristen. Im Tal weideten zwar einige Rinderherden, doch boten sie einen kümmerlichen Anblick. Er hatte Bergziegen und Steinböcke in unmittelbarer Nähe der Rinderherden beobachtet. Gabelantilopen grasten auf den unteren Hängen, und Kojoten streiften ab und zu herum.
Er war mit seinem Allradjeep nur ein einziges Mal seit seiner Ankunft hinuntergefahren, um seine Lebensmittelvorräte in Clements Laden aufzustocken. War das am Dienstag gewesen? Vor zwei Tagen? Er hatte ein Paket tiefgekühlter Erbsen gekauft und dabei vergessen, dass er kein Tiefkühl-
fach hatte, sondern lediglich einen kleinen, sehr modernen Kühlschrank, der von dem vor der Hütte stehenden Generator gespeist wurde. Also hatte er die Erbsen auf seinem Holzkohleofen gekocht und die ganze Packung im Schein einer hellen Lampe aufgegessen, die ebenfalls von dem Generator betrieben wurde.
Er streckte sich, sah zwei Beute suchende Falken vorüberfliegen, nahm seine Axt und ging zum Baumstumpen neben der Hütte, wo er Holz spaltete. Es dauerte nicht lange, ehe er seine Daunenjacke auszog, dann sein Flanellhemd, gefolgt von seinem Unterhemd. Immer noch schwitzte er. Er steigerte seinen Rhythmus. Die Sonne fühlte sich heiß und angenehm auf seiner Haut an und wärmte seine Muskeln. Er fühlte sich kräftig und gesund, es ging ihm gut. Er wusste, dass er mehr Holz spaltete, als er in der nächsten Woche würde aufbrauchen können, aber er behielt den schnellen, geschmeidigen Rhythmus bei, spannte und entspannte die Muskeln, die sich kraftvoll zusammenzogen, um sich dann wieder zu lockern.
Kurz hielt er inne, um sich mit dem Hemdsärmel den Schweiß von der Stirn zu wischen. Selbst der Schweiß
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