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Vergeben, nicht vergessen

Titel: Vergeben, nicht vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Catherine Coulter
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er, dass es ein Kind war, ein reglos auf dem Bauch liegendes Mädchen. Ihr braunes Haar fiel ihr zerzaust über den Rücken und verdeckte das Gesicht.
    Er sackte neben ihr auf die Knie. Einen Moment lang fürchtete er, sie anzufassen. Dann betastete er leicht ihre Schulter und schüttelte sie sacht. Sie bewegte sich nicht. Der Puls an ihrem Hals schlug langsam, aber regelmäßig. Gott sei Dank war sie lediglich bewusstlos und nicht tot. Er befühlte erst ihre Arme, dann die Beine. Nichts war gebrochen. Doch sie konnte innerliche Verletzungen erlitten haben. In diesem Fall würde er nur wenig ausrichten können. Vorsichtig drehte er sie um.
    Auf ihren Wangen waren zwei lange Kratzer, das Blut getrocknet und verschmiert. Wieder legte er seinen Finger an den Puls in ihrem Nacken. Immer noch langsam, immer noch regelmäßig.
    Er hob sie so umsichtig wie möglich auf, dann griff er nach seiner Axt. Er drückte das Mädchen an sich, um sie vor den niedrigen Kiefernästen und dem Unterholz zu schützen. Sie war klein, vermutlich nicht älter als fünf oder sechs. Ihm fiel auf, dass sie keine Jacke trug, lediglich ein gelbes T-Shirt und dreckige gelbe Jeans. Sie trug weiße Turnschuhe, von denen sich einer der Schnürsenkel gelöst hatte und die Enden herabhingen. Keine Socken, keine Handschuhe, keine Jacke, keine Mütze. Was machte sie ganz allein hier draußen? Was war ihr zugestoßen?
    Er stoppte mit angehaltenem Atem. Er hätte schwören können, schwere Schritte im Unterholz gehört zu haben. Doch vermutlich bildete er sich das nur ein. Er drückte die Kleine fester an sich und legte an Tempo zu, wobei ihn das Geräusch knirschender Schritte verfolgte.
    Es war schon tiefe Dämmerung, als er durch die Tür seiner Hütte trat. Er legte das Mädchen auf das Sofa und deckte es mit einer afghanischen Decke zu, ein altes, rotblaues Wollviereck, vermutlich betagter als er selbst und sehr warm. Er knipste alle Lampen an.
    Dann wandte er sich um und blickte stirnrunzelnd auf die Eingangstür. Mit raschen Griffen verriegelte er sie. Er brummte, als er zusätzlich die Kette vorlegte. Lieber auf Nummer Sicher gehen, die Kette konnte nicht schaden. Dann zündete er den Kamin an. Innerhalb von zehn Minuten war das kleine Zimmer warm.
    Das Kind war immer noch bewusstlos. Er strich ihr sacht über die Wange, dann lehnte er sich zurück und wartete.
    Sein Tag endete völlig anders, als er erwartet hatte. »Wer bist du?«, fragte er das Kind. Ihr Gesicht lag von ihm abgewandt. Die Kratzer wirkten im Lampenschein tief und brutal.
    Er holte eine Schüssel mit lauwarmem Wasser, die den ganzen Nachmittag auf dem Ofen gestanden hatte, ein Paar weiße Turnsocken, ein Stück Seife. Er wusch ihr Gesicht so vorsichtig, wie es mit dem über die Hand gezogenen Socken möglich war, und entfernte das Blut von den langen Kratzern.
    Er holte eines seiner flauschigen weißen Unterhemden, das warm und von der jahrelangen Wäsche sehr weich geworden war, dann zog er sie aus. Er musste sie, so gut er konnte, untersuchen. Erst war er schockiert, dann wütend über das, was er entdeckte.
    Sie war mit blauen Flecken und Schrammen übersät, manche von ihnen mit Blut verkrustet. Blut war zwischen ihren Beinen verschmiert. O Gott. Eine gequälte Sekunde schloss er die Augen.
    Dann wusch er sie sorgfältig, wobei er keine weiteren Wunden oder Schnitte feststellte, lediglich Hautabschürfungen und Blutergüsse. Er drehte sie auf den Bauch. Lange, dünne Striemen überzogen von den Schultern bis zu den Füßen die Haut des Kindes. Es waren Striemen, die einander nicht überlappten. Sie waren sorgfältig platziert, als ob der Täter jeden Millimeter der kindlichen Haut habe markieren wollen, um so ein ganz bestimmtes Ziel, einen bestimmten Effekt zu erreichen. Sie war dünn und so weiß wie das saubere Unterhemd, das er ihr über den Kopf streifte. Das Unterhemd reichte ihr bis zu den Füßen. Er strich die Decke über ihr glatt und kämmte ihre Haare mit den Fingern durch. So behutsam wie möglich versuchte er die schlimmsten Verknotungen zu lösen. Es war gut, dass sie nicht wach war, während er sie versorgte. Seufzend lehnte er sich wenig später zurück und starrte das bewusstlose Kind an.
    Er spürte, wie er vor Wut bebte. Welches Ungeheuer hatte diesem Kind das angetan? Er wusste, leider aus eigener Erfahrung, dass es zahlreiche dieser Bestien gab. Sollte er so einem Individuum mal begegnen, würde er sich gleichzeitig übergeben und den Mistkerl umbringen

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