Vergeltung
waren mit Blutstreifen überzogen, und Bauch und Unterleib wiesen
tiefe, schwarze Einstiche auf, die von einem Messer herrühren mussten. Nur die
Augen waren unverletzt. Anna Gudbergsens große grüne Augen starrten
ausdruckslos in den Himmel.
Michael schluckte. Schloss für einen Moment die Augen, um sich eine
Verschnaufpause zu verschaffen, Kräfte zu sammeln und die vielen Eindrücke des
Tatorts zu verdauen. Um ihn herum summte es vor Leben, mehrere Beamte teilten
den Tatort in Felder auf.
»Ganz schön brutal, was?« Er spürte, wie ihn jemand an der Schulter
packte und sah seinem Freund und Kollegen David Johansen in die Augen. Michael
nickte stumm.
Die Luft war voller schwarzer Punkte, Schmeißfliegen, die emsig über
der Leiche schwirrten. Es roch süßlich. Michael wurde erneut von einer heftigen
Übelkeit übermannt und ermahnte sich, das Frühstück in Zukunft nicht mehr
ausfallen zu lassen.
Der Rechtsmediziner Thorkild Thøgersen, der kurz vor der
Pensionierung stand, gesellte sich zu ihnen.
»Århus ist im Anmarsch«, brummte er und kratzte sich die grauen
Bartstoppeln. »Ich bin hier gleich fertig.«
»Kannst du schon was sagen?«
»Sie ist heute Nacht gestorben – irgendwann zwischen zwei und vier
Uhr morgens. Wie du siehst, hat die Leichenstarre in der Kiefermuskulatur und
in Teilen des Oberkörpers bereits eingesetzt. Außerdem haben die Schmeißfliegen
angefangen, Eier in die Wunden zu legen.«
Michael beugte sich über die Leiche, sah die winzigen Punkte in den
klaffenden Wunden und spürte umgehend den Drang, sich zu übergeben. Er schluckte
schnell, und der alte Rechtsmediziner fuhr fort: »Jemand hat mehrere Male mit
einem scharfen Gegenstand auf sie eingestochen, vermutlich mit einem ganz normalen,
ungefähr fünfzehn bis zwanzig Zentimeter langen Küchenmesser. Ich möchte
wetten, dass es an die zwanzig Stiche sind.«
Thorkild Thøgersen schüttelte den Kopf und zeigte auf Anna.
»Wenn man den Kopf vorsichtig dreht, sieht man deutlich, dass sie
ein paar kräftige Schläge auf den Hinterkopf bekommen hat. Durch die langen
Haare ist das schwer zu erkennen, aber das sieht ganz nach Gehirnmasse aus, die
ausgetreten ist.« Michaels Blick folgte dem runzligen Finger, der auf eine
gräuliche Masse zeigte, die den Waldboden bedeckte. Thorkild Thøgersen blickte
ihn finster an und konstatierte: »Aber die eigentliche Todesursache lautet
vermutlich Tod durch Erwürgen.«
Michael runzelte überrascht die Stirn.
»Guck mal.« Der Rechtsmediziner zeigte auf ihren Hals. Ein Großteil
des dünnen Halses war mit eingetrocknetem Blut bedeckt, doch dort, wo die bloße
Haut zu sehen war, erkannte das geschulte Auge eine Reihe kleiner blauer Blutergüsse.
Michael nickte und hockte sich neben ihn.
»Sieh dir mal ihre Augen an«, sagte Thorkild Thøgersen. »Siehst du
die kleinen punktförmigen Blutungen? Ein weiterer Anhaltspunkt, dass sie erwürgt
wurde. Mehrere der Messerstiche waren tief und tödlich, da hat jemand wirklich
ganze Arbeit geleistet. Hinzu kommen die Schläge auf den Hinterkopf und das
Strangulieren. Es wundert mich, dass der Täter, wie soll ich sagen, so
gründlich vorgegangen ist, doch das muss ich glücklicherweise nicht verstehen,
das ist euer Job. Hast du dir übrigens das Gebüsch angesehen?«
Michael drehte den Kopf, sein Blick folgte Thøgersens Hand, und er
sah die winzigen Blutspritzer auf den grünen Büschen und Pflanzen, die die
Sonnenstrahlen wie Pailletten glitzern ließen.
Thorkild Thøgersen kramte in den Taschen seines weißen Schutzanzugs
und förderte eine vergilbte Packung Ga-Jol zutage. Er öffnete sie und bot
Michael davon an.
»Vermutlich ist sie bei der Schranke niedergeschlagen worden. Ein
großer Ast versperrt dort den Weg – vielleicht eine Falle –, dann hat der Täter
sie ins Gebüsch gezerrt und sein Werk beendet. Okay, ich sehe zu, dass ich
etwas zu essen bekomme, während ich auf Århus warte.«
Thorkild Thøgersen erhob sich schwer aus seiner sitzenden Position,
blieb einen Augenblick stehen und starrte gedankenverloren vor sich hin.
»Das ist schon merkwürdig. Vor ungefähr zwanzig Jahren hatten wir
einen ähnlichen Mord. Ich war gerade von Odense hierhergekommen. Wie hieß die
Frau noch? Lene … Lene irgendwas. Sie ist gar nicht so weit von hier ermordet
worden, etwas weiter den Fjord runter. Auf sie wurde auch mehrere Male mit
einem Messer eingestochen. Das war mein erster Fall als Rechtsmediziner hier in
der Stadt. Der hat Eindruck auf
Weitere Kostenlose Bücher