Vergessene Stimmen
seinem Stift auf den Befund und dachte über dieses Detail nach. Hier hatten Green und Garcia einen Fehler gemacht. Wenn sie die Füße des Opfers gleich am Tatort untersucht hätten, wären sie sofort zu dem Schluss gelangt, dass der Selbstmord nur vorgetäuscht war. Da sie das jedoch versäumt hatten, verloren sie zwei Tage, weil sie übers Wochenende auf den Obduktionsbefund warteten. Zählte man zu diesen zwei Tagen noch die zwei Tage dazu, die sie verloren hatten, weil die Vermisstenmeldung der Eltern zunächst als Ausreißversuch abgetan wurde, summierten sie sich zu einem für Mordermittlungen grenzwertigen Zeitraum. Der Fall war eindeutig sehr langsam aus den Startlöchern gekommen. Bosch begann allmählich zu sehen, wie sehr die Polizei Rebecca Lost im Stich gelassen hatte.
Der Obduktionsbefund enthielt auch das Ergebnis eines Schmauchspurentests, der an den Händen des Opfers vorgenommen worden war. An Becky Losts rechter Hand befanden sich Schmauchspuren, an ihrer linken nicht. Auch wenn Lost Rechtshänderin gewesen war, war dieser Umstand für Bosch ein Indiz dafür, dass sie die Waffe, die sie tötete, nicht abgefeuert hatte. Ihre Erfahrung – egal, wie begrenzt sie war – und ihr gesunder Menschenverstand hätten den Ermittlern sagen müssen, dass das Mädchen beide Hände gebraucht hätte, um die schwere Pistole so zu halten, dass sie auf ihre Brust zielte, und dann abzudrücken. Und das hätte Schmauchspuren an beiden Händen zur Folge gehabt.
Es gab in der Zusammenfassung des Obduktionsbefunds noch einen weiteren bemerkenswerten Punkt. Die Untersuchung der Leiche ergab, dass das Opfer bereits Sexualverkehr gehabt hatte, und Vernarbungen an den Gebärmutterwänden deuteten auf eine kurz zuvor erfolgte Dilatation und Ausschabung zum Zweck eines Schwangerschaftsabbruchs hin. Den Schätzungen des Gerichtsmediziners zufolge, der die Autopsie durchgeführt hatte, war dieser Eingriff vier bis sechs Wochen vor Becky Losts Tod vorgenommen worden.
Bosch las den ersten zusammenfassenden Ermittlungsbericht, der nach der Autopsie in die Akte aufgenommen worden war. Green und Garcia hatten den Todesfall inzwischen als Mord eingestuft und die Theorie aufgestellt, dass jemand in das Schlafzimmer des schlafenden Mädchens eingedrungen war, sie mit einer Betäubungspistole betäubt und dann aus dem Haus und den Hang hinauf zu der umgestürzten Eiche getragen hatte, wo er sie erschoss und die Tat aus einem spontanen Entschluss heraus dilettantisch als Selbstmord zu tarnen versuchte. Dieser Bericht wurde am Montag, den 11. Juli – fünf Tage nachdem Rebecca Lost auf dem Berghang erschossen worden war – in die Akte aufgenommen.
Als Nächstes nahm sich Bosch die Tatwaffenanalyse vor. Nachdem bereits die Autopsie unwiderlegbare Beweise für einen inszenierten Selbstmord erbracht hatte, stützten auch die Tatwaffenanalyse und die entsprechenden ballistischen Untersuchungen diese Ermittlungstheorie.
Wie sich zeigte, wies die Pistole keine anderen Fingerabdrücke auf als die von Becky Losts rechter Hand. Aus dem Umstand, dass auf der Pistole keinerlei Abdrücke der linken Hand oder sonst irgendwelche Spuren waren, schlossen die Ermittler, dass die Waffe sorgfältig abgewischt worden war, bevor sie Becky in die Hand gedrückt und dann auf ihre Brust gerichtet und abgefeuert worden war. Aller Wahrscheinlichkeit nach war das Opfer infolge eines Stromstoßes aus der Betäubungspistole bewusstlos gewesen, als es dazu kam.
Die Patronenhülse, die beim Abfeuern des tödlichen Schusses ausgeworfen worden war, wurde knapp zwei Meter von der Leiche entfernt gefunden. Es waren keine Fingerabdrücke oder Spuren darauf, ein Hinweis, dass der Täter beim Laden der Waffe Handschuhe getragen hatte.
Das wichtigste Beweisstück des Ermittlungsverfahrens wurde bei der Untersuchung der Tatwaffe selbst entdeckt. Es wurde sogar in der Waffe gefunden. Es handelte sich dabei um ein Mark-IV-Modell der 80er-Serie, das 1986 bei Colt gefertigt worden war, also zwei Jahre vor dem Mord. Die halbautomatische Waffe hatte einen langen Hammerdorn, der insofern von Bedeutung war, als die Waffe in dem Ruf stand, dem Schützen eine »Tattoo«-Verletzung beizubringen, wenn sie beim Abfeuern unsachgemäß gehandhabt wurde. Dazu kam es in der Regel, wenn beim beidhändigen Halten der Waffe die Haupthand am Griff nach oben und zu nahe an den Hammerdorn geschoben wurde. Die Haupthand konnte dann einen schmerzhaften Stempel erhalten, wenn beim Drücken des
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