Vergessene Welt
biologischen Fakultät, auf dem Weg zu seinem Büro.
»Zu wenig
bedrohlich?« wiederholte Tim.
»So stehen die
nie da, so plattfüßig auf den Hinterläufen. Geben Sie ihm ein Buch« – er schnappte
sich ein Notizbuch vom Tisch und legte es dem Tier auf die Vorderläufe – »und
er sieht aus, als würde er ein Weihnachtslied singen.«
»Also wissen
Sie«, sagte Tim. »So schlimm ist es doch auch wieder nicht.«
»Schlimm?«
wiederholte Malcolm. »Das ist eine Beleidigung für einen so hervorragenden
Jäger. Wir sollten seine Schnelligkeit, seine Kraft und Bedrohlichkeit spüren.
Das Maul muß weiter aufgerissen sein. Der Hals gekrümmt. Die Muskeln angespannter,
die Haut straffer. Und dieses Bein gehört in die Höhe. Vergessen Sie nicht,
Raptoren greifen nicht mit dem Maul an, sondern mit ihrer Zehenklaue«, sagte
Malcolm. »Ich will die Klaue hochgereckt sehen, so als wollte er gleich damit zuschlagen
und seinem Opfer die Gedärme herausreißen.«
»Meinen Sie
wirklich?« fragte Tim zweifelnd. »Kleinen Kindern jagt das vielleicht Angst ein
…«
»Sie meinen
wohl, es jagt Ihnen Angst ein.« Malcolm ging weiter den Gang entlang. »Und noch
was: Ändern Sie dieses Zischgeräusch. Das klingt ja, als würde jemand pinkeln.
Lassen Sie das Tier fauchen. Geben Sie dem großen Jäger, was ihm zusteht.«
»O Mann«, sagte
Tim. »Ich habe ja gar nicht gewußt, daß Ihnen das so sehr am Herzen liegt.«
»Es sollte genau
sein«, sagte Malcolm. »Wissen Sie, es gibt so etwas wie genau und ungenau, unabhängig
davon, was Sie dabei empfinden.« Leicht gereizt ging er weiter, ohne den
Schmerz in seinem Bein zu beachten. Er ärgerte sich über den Modellbauer, obwohl
er zugeben mußte, daß Tim der typische Vertreter einer derzeit weit verbreiteten,
unscharfen Denkweise war – der »schmalzigen Wissenschaft«, wie Malcolm es nannte.
Malcolm ärgerte
sich schon länger über die Arroganz seiner Wissenschaftlerkollegen. Und arrogant
war es zweifelsohne, daß sie sich beharrlich weigerten, die Geschichte der
Wissenschaft als eine Kette aufeinander aufbauender Theorien und Erkenntnisse zu
betrachten. Die Wissenschaftler taten so, als wäre die Geschichte unwichtig,
weil die Irrtümer der Vergangenheit durch moderne Entdeckungen korrigiert
wurden. Aber natürlich hatten ihre Vorgänger in der Vergangenheit genau
dasselbe geglaubt, und genauso, wie sie sich damals geirrt hatten, irrten sich
die modernen Wissenschaftler heute. Keine Episode aus der Wissenschaftsgeschichte
illustrierte das besser als die Art und Weise, wie sich das Bild der
Dinosaurier im Verlauf der Jahrzehnte verändert hatte.
Es war
ernüchternd, erkennen zu müssen, daß die früheste Darstellung der Dinosaurier
die präziseste gewesen war. Als Richard Owen in den 40er Jahren des vorigen
Jahrhunderts zum ersten mal Riesenknochen in England beschrieb, nannte er sie
Dinosauria: schreckliche Echsen. Das war noch immer die präziseste Beschreibung
für diese Lebewesen, dachte Malcolm. Sie waren wirklich wie Echsen, und sie
waren schrecklich.
Aber seit Owen
hatte die »wissenschaftliche« Betrachtung der Dinosaurier viele Veränderungen
durchgemacht. Weil die Viktorianer an die Unausweichlichkeit des Fortschritts
glaubten, beharrten sie darauf, daß die Dinosaurier minderwertig gewesen sein
mußten – warum wären sie denn sonst ausgestorben? Die Viktorianer sahen sie als
fett, faul und dumm, als die großen Trottel der Vergangenheit. Dieser Gedanke
entwickelte sich weiter, so daß die Dinosaurier am Anfang des 20. Jahrhunderts
in der Vorstellung der Menschen so schwach geworden waren, daß sie kaum ihr
eigenes Gewicht tragen konnten. Apatosaurier mußten bis zum Bauch im Wasser
stehen, weil ihre Beine in Relation zu ihrer Masse angeblich zu kraftlos waren.
Das gesamte Bild der Urzeit war geprägt von der Vorstellung von schwachen,
dummen, langsamen Tieren.
Diese Ansicht
änderte sich erst, als Anfang der 60er Jahre einige Abtrünnige unter der
Führung von John Ostrom begannen, sich schnelle, bewegliche, warmblütige
Dinosaurier vorzustellen. Weil diese Wissenschaftler es wagten, am Dogma zu kratzen,
wurden sie jahrelang heftigst kritisiert, obwohl es inzwischen den Anschein
hatte, als seien ihre Vorstellungen korrekt.
Im letzten
Jahrzehnt jedoch führte das wachsende Interesse an der Verhaltensforschung zu
einer dritten Betrachtungsweise. Dinosaurier wurden jetzt als treusorgende Wesen
gesehen, die in Herden lebten und ihre Jungen großzogen. Sie wurden
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