Phillips, Carly - Costas-Sisters 01 - Kuess mich Kleiner!
Erstes Kapitel
Wenn Wände sprechen könnten, was würden sie für Geschichten erzählen! Vor allem diese hier, dachte Ariana Costas, als sie die lange Reihe von Fotos betrachtete, welche die Wände des Treppenhauses in ihrem Elternhaus schmückten. Sie stellten eine personifizierte Dokumentation des Wahnsinns dar, wenn es denn überhaupt so etwas gab. Das berüchtigte »Panoptikum der Schande«, wie Ariana es gern nannte. Die Fotos zeigten ihre Verwandten auf dem Gipfel ihrer Durchtriebenheit.
Nach den Geräuschen aus der Küche zu urteilen, war ihre Familie auch jetzt wieder fleißig am Werk. Ariana schüttelte den Kopf. Ihr wurde klar, dass sich in den fünf Jahren, die sie von zu Hause fort gewesen war, bedauerlicherweise nicht das Geringste geändert hatte. Offenbar ließ sich ihre Familie nicht einmal von einer vermisst gemeldeten Tochter von ihren Gewohnheiten abhalten. Vor der Küchentür blieb Ariana kurz stehen, zog die Jacke ihres schwarzen Hosenanzugs wie einen Harnisch fester um sich und betrat die Arena.
Die Schwester ihrer Mutter besaß eigentlich ein eigenes Haus gegenüber. Doch sie war fast immer hier, sodass man den Eindruck bekam, als gehöre sie zum Inventar. Vor ihr auf dem Tisch lag das aufgeschlagene Telefonbuch, und sie pickte sich aufs Geradewohl irgendwelche Nummern heraus.
»Hallo? Brauchen Sie nicht mal wieder eine Schornsteinreinigung?«, erkundigte sich Tante Dee mit ihrer hohen Stimme. »Schließlich steht der Winter bald vor der Tür, und man kann nicht vorsichtig genug sein. Wenn Sie ein gemütliches Kaminfeuerchen anzünden, wollen Sie doch sicher nicht feststellen müssen, dass ein Tier im Kamin festsitzt, oder?« Im Nu hatte sie einen Termin mit ihrem Gesprächspartner vereinbart und trug ihn in einen Kalender ein.
Ariana konnte es nicht fassen, dass es immer noch Leute gab, die auf diesen Trick hereinfielen. »Was ziehen Onkel John und du diesen arglosen Menschen eigentlich aus der Tasche, wenn ihr erst mal im Haus seid?«, fragte sie und ging zur Kaffeemaschine.
Tante Dee zwinkerte ihr nur zu, bevor sie die nächste Nummer aus dem Telefonbuch wählte.
Arianas Vater Nicholas saß an dem rechteckigen Küchentisch und zeichnete Plakate. Sie lächelte, als sie seinen kahlen Kopf sah. Die Glatze tat seinem guten Aussehen keinen Abbruch. Vor sieben Jahren war bei ihm Prostatakrebs diagnostiziert worden, was ihn jedoch keineswegs außer Gefecht setzte. Die Chemotherapie und der daraus resultierende Haarausfall legten vielmehr den Grundstein zur größten Einnahmequelle der Familie: die Addams-Family. Dabei holten sie sich ihre Ideen ungeniert bei der gleichnamigen TV-Familienserie. Nicholas spielte Onkel Fester, ihre wunderschöne Mutter Elena war mit ihrem rabenschwarzen Haar die Idealbesetzung für Morticia, und die anderen Verwandten übernahmen die restlichen Rollen. Im Lauf der Jahre spielte ihre Show am örtlichen Theater sogar Geld ein, und ihre Familie wurde der Stolz von Ocean Isle, Arianas kleiner Heimatstadt. Sie lag an der Küste von New Jersey, etwa eine Viertelstunde von Atlantic City entfernt.
Ariana küsste den kahlen Schädel ihres Vaters. Sie war sehr dankbar, dass Nicholas mittlerweile wieder geheilt und zudem immer noch auf freiem Fuß war. Dann schaute sie über seine Schulter auf das Plakat. »Verdienen Sie Geld, während Sie essen! Nehmen Sie an einer Gewichts-Studie teil!«, las sie laut vor. »Wie viel wird diese Studie die unschuldigen Teilnehmer denn kosten?«, fragte sie.
»Nur so viel sie geben wollen, das weißt du doch«, erwiderte Nicholas, ohne von seiner Arbeit aufzusehen.
Ariana verdrehte die Augen. Diese und andere Betrügereien kannte sie noch von früher zur Genüge. Die Mitglieder des Costas-Clans schummelten sich wie eh und je mit einem Zwinkern, einem Lächeln und dem legendären griechischen Charme durchs Leben. Überraschend fand Ariana nur, dass bisher kein Einziger von ihnen jemals hinter Gittern gelandet war. Was sie ihrem beinahe schon unverschämten Glück zuschrieb.
Ariana seufzte und nahm eine Tasse aus dem Schrank. Sie war gestern spät in der Nacht in ihrem Elternhaus angekommen, nachdem man sie vom Verschwinden ihrer Schwester informiert hatte. Und sie war hundemüde. Sie hob die Kanne hoch, der Kaffee sah dunkel und stark aus und wirkte nicht besonders appetitlich. Aber schließlich behauptete auch keiner aus ihrer Familie, mit Martha Stewart oder Bocuse verwandt zu sein. Gott sei Dank.
Bevor sie einen Schluck
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