Vergiftet
Veronica Nansen ist nicht zu Hause. Also fährt er weiter zum Ullevål-Stadion. Die Büroräume von Nansen Models AS befinden sich im dritten Stock, gleich neben einer Klinik für Allergien und Lungenkrankheiten. Ironische Platzierung einer Agentur, die leicht bekleidete Unterhaltung vermittelt, denkt Henning, begräbt den Gedanken aber im selben Augenblick, als er das Vorzimmer betritt und der Frau hinter dem blank polierten und bumerangförmigen Glastresen zunickt.
»Ist Veronica Nansen da?«, fragt er.
»Worum geht es?«
»Ich möchte mich mit ihr unterhalten. Sie weiß, wer ich bin.«
»Sie ist gerade ziemlich beschäftigt.«
»Sagen Sie ihr einfach, Henning Juul ist hier«, sagt er. »Und dass es wichtig ist.«
Die Sekretärin mustert ihn von der Seite, ehe sie den Telefonhörer unter ihre langen Haare schiebt und etwas sagt, das Henning nicht versteht. Eigentlich erstaunlich, denkt er, dass Veronica schon wieder bei der Arbeit ist. Andererseits auch nicht ungewöhnlich, dass man versucht, sich abzulenken, indem man so schnell wie möglich wieder in seinen Alltag zurückkehrt.
»Dort hinten, bitte«, sagt die Sekretärin und deutet in einen Korridor. Er bedankt sich mit einem Lächeln für die Hilfe und klopft zweimal an die Tür, auf der in großen silberfarbenen Lettern Veronica Nansens Name prangt. Eine Stimme auf der anderen Seite bittet ihn, sich einen Moment zu gedulden. Er hört Schritte, bevor die Tür aufgeht.
»Henning Juul?«, sagt Veronica Nansen. Sie tritt einen Schritt zur Seite und lässt ihn herein. Danach geht sie um ihren Schreibtisch herum, setzt sich und bietet auch ihm einen Platz an.
In der nächsten halben Minute erzählt Henning, was passiert ist.
Als er fertig ist, stützt Veronica sich auf die Ellbogen. Ihre Haare fallen ihr vors Gesicht. »Was zum Teufel ist bloß los?«, fragt sie und sieht ihn an.
»Schwer zu sagen«, antwortet Henning.
Stille macht sich im Raum breit. Er lässt ihr Zeit, sich zu sammeln.
»Nach dem, was gestern auf der Beerdigung passiert ist, drängt sich einem natürlich der Verdacht auf, dass es Petter war«, beginnt er. »Er hat Robert ja schon früher gedroht, ihn umzubringen …«
Er formuliert das eher als Frage, aber Veronica antwortet nicht.
»Wissen Sie, was Petter gestern nach dem Leichenschmaus gemacht hat?«
»Ein paar der Jungs sind zum Training gefahren, glaube ich. Der Rest ist nach Hause gegangen.«
»Sie haben gestern trainiert?«
»Ja, sie trainieren immer. Petter meinte, das wäre die passendste Art, Tores Andenken in Ehren zu halten«, sagt sie und verdreht die Augen.
Henning schießt ein Gedanke durch den Kopf. Jocke Brolenius wurde mit einer Axt erschlagen, Tore Pulli vermutlich vergiftet und Robert van Derksen erschossen. Und da Ørjan Mjønes festgenommen wurde, kann er die letzte Tat nicht begangen haben, außer das Ganze war von langer Hand im Voraus geplant. Es gibt mehrere Täter, denkt Henning. Es kann nur so sein. »Kennen Sie sich mit Waffen aus?«, fragt er und wundert sich selbst, wie unvermittelt diese Frage kommt.
»Warum fragen Sie?«
»Reine Neugier.«
»Das nehme ich Ihnen nicht ab. Sie fragen nie etwas einfach nur aus Neugier.«
Henning versucht, ihrem forschenden Blick auszuweichen. »Kennen Sie jemanden, der eine Schusswaffe besitzt?«
»Ich glaube, jeder aus der Clique hat eine.«
»Was ist mit Tore? Hatte er eine?«
»Ja.«
»Haben Sie sie jemals ausprobiert?«
»Ja, ein paarmal. Aber das ist lange her.«
»Sie können also schießen?«
»Ja.« Ihre Miene verdüstert sich. »Aber gestern Abend habe ich nicht geschossen, wenn es das ist, was Sie mich fragen wollen.«
»Das werde ich Sie nicht fragen«, antwortet Henning und senkt den Blick.
Ihm wird klar, dass niemand einfacher an den alten Schlagring kommen konnte als sie. Und sie konnte Tausende von Motiven haben, ihrem verurteilten Mann den Tod zu wünschen. Ob van Derksen das gewusst hat? War das der Grund, warum er sterben musste?
105
Die Kommandozentrale liegt zwischen der roten und der grünen Zone in der fünften Etage des Polizeipräsidiums. Alle Zusammenkünfte der Abteilung für Gewaltverbrechen finden hier statt, darüber hinaus konferieren sie jeden Morgen Punkt acht Uhr mit der Gerichtsmedizin, in welcher Reihenfolge die Obduktionen zu bearbeiten sind.
Der Raum wirkt dank der skandinavischen Möbel und des gelblichen Linoleums hell und freundlich. Bjarne Brogeland setzt sich auf einen der Stühle mit schwarzem Blumenmuster
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