Vergiftet
Moment auf jemanden einschlagen.
Auf einmal kommt Bewegung in die Menge der Trauergäste. Petter Holte drängt sich vor und tritt direkt vor den Neuankömmling, der einen Schritt zurückweicht. Holte tippt wütend mit dem Zeigefinger auf die Brust des Mannes. Henning hebt seine Kamera und macht eifrig Bilder.
»Es ist mehr als dreist, dass du hier deine Fresse zeigst«, faucht Holte.
»He, Mann. Tore war verdammt noch mal auch mein Freund!«, sagt der Mann.
Geir Grønningen und Kent Harry Hansen gehen zwischen die beiden. Grønningen packt Holte, der sich nach Leibeskräften wehrt.
»Nicht hier«, sagt Grønningen. »Verdammt noch mal, nicht auf Tores Beerdigung!«
Hansen kümmert sich um den anderen Mann, der wie Holte in Wut geraten ist. Er rückt seine schwarze Anzugjacke zurecht, ohne Holte aus den Augen zu lassen. Schließlich gibt Petter Holte nach.
Einige Minuten später haben die Anwesenden sich wieder beruhigt. Henning sucht nach dem Gesicht, das Holte so aufgeregt hat, ohne es zu finden. Kurz darauf tritt die Menschenmenge dichter an das offene Grab heran. Die Beisetzung ist beendet, doch es bleibt Henning verborgen, was der Pastor macht. Grønningen befindet sich dicht bei Holte, er ist gut einen Kopf größer. Daneben steht Veronica Nansen, die sich an einen älteren Mann klammert, dessen Augen und Mundpartie den ihren auffallend ähnlich sehen. Auch das maskuline Mädchen aus Kraft & Respekt ist da. Es scheinen alle gekommen zu sein. Zu guter Letzt findet Henning den Mann, der Holte so erzürnt hat. Er steht mit gesenktem Haupt am Rand der Versammlung. Wo habe ich den nur schon mal gesehen?, fragt er sich.
Bald darauf landen die ersten Schaufeln Erde auf Pullis Sarg. Henning versteckt sich hinter seiner Kamera und knipst noch ein paar weitere Bilder. Er sieht, dass Holte sich streckt, Grønningen etwas ins Ohr flüstert und dann die Faust ballt, als wollte er zuschlagen. Nachdem alle am Grab waren, bildet sich eine Schlange vor Veronica Nansen. Henning stellt sich ganz hinten an und sieht, dass Veronica ziemlich mitgenommen ist. Trotzdem lächelt sie tapfer.
»Mein Beileid«, sagt Henning, als er an der Reihe ist, und reicht ihr die Hand. Nansen ergreift sie und umarmt ihn wie auf Autopilot.
»Danke, dass Sie gekommen sind«, sagt sie.
»Wie geht es Ihnen?«, fragt er, als sie etwas zur Seite treten.
Nansen zuckt mit den Schultern. »Es fühlt sich an, als hätte ich einen Teil von mir selbst verloren.« Sie spricht langsam, ohne ihn anzusehen. »Ein Teil von mir ist weg, aber dieser Teil … irgendwie tut es noch immer weh. Verstehen Sie, was ich meine?«
Henning sieht sie lange an, und seine Augen werden feucht. Es überrumpelt ihn, dass eine Frau wie Veronica Nansen das Gefühl in Worte fassen kann, das ihn jetzt schon gut zwei Jahre quält.
»Phantomschmerzen«, sagt er leise.
»Hm?«
»Ich verstehe, was Sie meinen.«
»Ja, Sie können das verstehen, selbstverständlich«, sagt sie und schüttelt langsam den Kopf. »Tut mir leid.«
Der Mann, den Henning für Nansens Vater hält, kommt zu ihnen und nickt Henning kurz zu.
»Wir treffen uns hinterher noch mit ein paar von Tores Freunden«, sagt sie, als sie sich in Bewegung setzen. »Wäre schön, wenn auch Sie kommen könnten.«
»Das ist sehr nett von Ihnen, Veronica, aber ich weiß nicht, ob ich mich als einer von Tores Freunden bezeichnen würde. Oder ob es wirklich gut wäre … Hier scheinen nicht wirklich alle willkommen zu sein.«
»Nein«, antwortet Nansen und blickt zu Boden. »Petter ist manchmal …« Sie schüttelt den Kopf.
»Wer war der andere?«, fragt Henning, als sie sich dem Parkplatz nähern.
»Das war Robert«, antwortet sie. »Robert van Derksen.«
100
Der Arzt hat einen guten Job gemacht, Ørjan Mjønes schläft die Nacht durch, wacht aber früh am nächsten Morgen auf. Er ist nervös. Thorleif Brenden ist viel zu schnell gefunden worden. Die kleine, naseweise Mia Sikveland von der Rezeption in Ustaosets Hotel wird sicher stutzen, wenn sie in der Zeitung von Brenden liest, auch wenn der Todesfall aller Voraussicht nach als Unfall verzeichnet werden wird. Sie wird sich fragen, wieso Brenden einen Decknamen benutzt hat, und in jedem Fall wird sie sich wundern, warum der Polizist aus Oslo sie nicht korrigiert hat, als sie ihn Einar nannte. Das war ein Schnitzer. Ein großer. Hätte er nur ein bisschen mehr Bargeld zur Verfügung, würde er Durim in ihre Wohnung nach Geilo schicken, um sie aus dem Weg zu
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