Vergiftet
nur, wie tief die Narben sind, die all das hinterlassen hat.
102
Eine milde Abendbrise strömt durchs offene Fenster und streicht über Robert van Derksens feuchtes Gesicht. Er holt tief Luft, lehnt sich auf dem Sofa zurück und starrt an die Decke. Das war ein langer Tag. Direkt nach der Beerdigung zu einer Krav-Maga-Gruppe zu fahren, die von ihm vollen Einsatz erwartete, war keine gute Idee. Besonders nicht nach dieser Beerdigung.
Tore, denkt van Derksen, mausetot. Ein merkwürdiger Gedanke. Tore war immer unsterblich – ein Mensch, dem nichts zustoßen konnte. Und dann – direkt vor die Wand. Zuerst Gefängnis und verurteilt und dann tot, lange vor seiner Zeit.
Van Derksen muss daran denken, was der Journalist gesagt hat. Es ergibt einfach keinen Sinn, dass ein cleverer Mann wie Tore seine Visitenkarte am Tatort hinterlässt. Da ist was dran, der Gedanke hat van Derksen unmittelbar nach Tores Festnahme auch gestreift, erst recht als Tore eine Million Kronen auf den Tisch blätterte für Informationen, die ihm weiterhelfen würden. Aber dann wurde er verurteilt, und anschließend wurde kaum noch darüber gesprochen. Auch Robert hat erst wieder bei dem Anruf des Journalisten daran gedacht. Danach führte er ein Telefonat. Wenn er jetzt im Nachhinein noch einmal das kurze Gespräch rekapituliert, kommt es ihm eigentlich ziemlich seltsam vor.
»Darf ich dich was fragen? Hast du den Pulli-Schlag noch anderen beigebracht?«
Stille.
»Warum willst du das wissen?«
»Ich dachte nur. Da hat ein Typ angerufen, der meinte, jemand anderes als Tore hätte Jocke umgebracht und ihm den Ellbogenschlag auf die Kinnlade verpasst. Damit es aussieht, als wäre Tore der Täter.«
Wieder Stille.
»Was für ein Typ?«
»Ein Journalist.«
»Name?«
»Daran erinnere ich mich nicht.«
»Mein Gott, Robert, natürlich erinnerst du dich.«
Er denkt nach.
»Juul oder so ähnlich.«
Erneute Stille.
»Henning Juul?«
»Könnte stimmen. Kennst du den?«
Lange Stille.
»Ich weiß zumindest, wer das ist.«
Was, wenn der Journalist recht hat?, denkt Robert. Was, wenn Tore tatsächlich unschuldig war? In dem Fall ist die Liste alternativer Täter sehr, sehr kurz.
Es klingelt an der Tür. Van Derksen steht auf, pflanzt einen Pulli-Ellbogen in den Sandsack, der unter der Decke hängt, und nimmt den Hörer der Gegensprechanlage ab, aber es antwortet niemand. Durch den Hörer hört er schwere Schritte auf der Treppe.
»Hallo«, ruft er. Die Haustür fällt ins Schloss. Bestimmt ein Vertreter, denkt er und geht zurück in die Wohnung. Er hat sich gerade wieder hingesetzt, als es an der Tür klopft. Entnervt steht er auf und geht zurück in den Flur. Als er die Tür öffnet und das Gesicht vor sich sieht, klappt ihm der Unterkiefer herunter. Unwillkürlich weicht er zurück und weiß im selben Augenblick, dass er sterben wird.
103
Bjarne Brogeland wird aus einem chaotischen Traum gerissen. Er spannt die Bauchmuskeln an und setzt sich auf, findet das leuchtende Folterinstrument auf seinem Nachtschränkchen und antwortet, ehe das Klingeln Anita weckt. Der diensthabende Beamte gibt Bjarne die Details durch. Anita brummt im Schlaf und bewegt sich.
»Okay«, sagt er leise. »Ich bin unterwegs.«
Er schleicht, so leise er nur kann, aus dem Schlafzimmer und schließt die Tür hinter sich. Noch ein Mord. Er seufzt und weiß genau, wie die nächsten Tage aussehen werden. Die Initialphase ist die wichtigste. In den ersten vierundzwanzig bis achtundvierzig Stunden geht es vorrangig darum, eine gute Ausgangsbasis für die weiteren Ermittlungen zu schaffen. In der Regel werden dafür große Ressourcen eingesetzt, Taktiker und Ermittler, ein so großes Ermittlungsteam wie nur möglich. Jeder lässt fallen, womit er gerade beschäftigt ist, und begibt sich auf direktem Weg zum Tatort. Und jeder weiß, welche Aufgabe er hat und was er tun soll. Glücklicherweise, denkt Brogeland, verfügen wir über eine gut geölte Maschinerie.
Er braucht eine Viertelstunde bis in die Vibes gate. Das rot-weiße Polizeiband ist um den gesamten Wohnblock gespannt. Schaulustige haben wie üblich bereits Stellung bezogen, obgleich es mitten in der Nacht ist. Autos parken regelwidrig am Straßenrand, aber das schert im Moment niemanden. Brogeland nickt einem Kriminaltechniker zu, ehe er Emil Hagen entdeckt.
Er ist nicht überrascht, dass Hagen bereits am Tatort ist. Es hat sich zu einem regelrechten Wettkampf entwickelt, wer der Erste vor Ort ist, jedenfalls
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