Vergiftet
erinnert sich an die endlosen Stunden in irgendwelchen Autos draußen auf der Straße, in denen er versucht hat, so unsichtbar wie nur möglich zu sein. Und an den Kick, wenn dann plötzlich im Laufe weniger Sekunden alles auf einmal geschieht. Dann ist der ganze Körper in Aufruhr, und man handelt nur noch, gibt Gas, ohne auch nur ein Mal zu zögern. Seit er eine Familie hat, kann er so nicht mehr leben. Das ständige Risiko und die alles andere als familienfreundlichen Arbeitszeiten sind für keine Beziehung tauglich.
Brogeland seufzt und sieht sich ein altes Foto von Mjønes an. Ein Mann, der sich in den letzten Jahren im Hintergrund gehalten hat, jetzt aber wieder zur Tat geschritten ist. Die Wahrscheinlichkeit, dass er bereits das Land verlassen hat, ist groß – wenn nichts Unvorhergesehenes geschehen ist. Aber was kann das schon sein?
97
Ørjan Mjønes friert, dabei schwitzt er heftig. Er stützt sich mit einer Hand auf den Fliesen in Durims Bad ab und betrachtet sich im Spiegel. Er ist blass, und sein Arm hängt schlaff herab. Dabei fühlt es sich an, als würde seine Schulter von innen gesprengt.
Mjønes kneift die Augen zu und reißt sie wieder auf. Ich verbrenne, denkt er und hält sein Gesicht unter kaltes Wasser, um für einen kurzen Moment Linderung zu bekommen.
Die Nacht auf Durims Sofa war eine der schlimmsten, an die er sich erinnern kann. Irgendwann hat die Zimmerdecke sich in Wasser verwandelt, das in einer gewaltigen Welle über ihn geschwappt ist. Wenn er die Augen zukniff, sah er nur noch Farben, gelb und lila, rosa, blau – alles durcheinander. In den kurzen klaren Augenblick wurde ihm bewusst, dass das Halluzinationen waren, weshalb er am Morgen als Erstes den Arzt angerufen hat. Mjønes kannte seinen Namen nicht, wusste aber, dass er immer schnell da war und schon andere behandelt hat, die nicht in die Notaufnahme gehen konnten. Natürlich war das nicht umsonst, aber die Kombination aus lebensrettender Erster Hilfe und Diskretion war ihren Preis wert.
Durim öffnet, als es klingelt. Kurz darauf betritt der Arzt den Raum. Mjønes steht mit zitternden Beinen auf. Ein Schauer läuft ihm über den Rücken. Der Doktor kommt auf ihn zu. Groß, frisch rasiert, frisiert und gestriegelt.
»Da haben wir ja unseren Patienten«, sagt er und lächelt.
In der Hand hält er einen Koffer. Er bleibt vor Mjønes stehen und mustert die Bandage an der Schulter. Dann macht er sich daran, den provisorischen Verband zu lösen, wobei er vorsichtig, Lage um Lage, den verklebten Mull löst. Mjønes hält vor Schmerzen die Luft an, als sich die letzte Schicht schließlich von seiner Haut löst. Am Rand der Wunde hat sich Schorf gebildet, aber der eigentliche Schnitt ist noch offen, sicher vier, fünf Zentimeter tief, schätzt Mjønes. Die umliegende Haut ist inzwischen noch geschwollener als in der Nacht. Der Farbe des Verbands nach zu urteilen, scheint die Wunde vereitert zu sein. Die Haut ist warm.
»Wir bräuchten eigentlich eine sterile Umgebung«, murmelt der Arzt. »Ich müsste einen Schnitt um die Wunde herum machen, und dann muss alles mit Salzwasser ausgespült werden.«
»Können Sie das denn nicht hier machen?«
»Nein, das würde alles nur verschlimmern. Sie gehören eigentlich auf einen OP -Tisch.«
»Dazu habe ich keine Zeit.«
»Das kann übel ausgehen, sind Sie sich dessen bewusst? Die Entzündung, die Sie jetzt schon in Ihrer Wunde haben, kann auf den Schulterknochen übergreifen, und wenn die Bakterien ins Blut gelangen, müssen Sie mit einer lebensgefährlichen Blutvergiftung rechnen.«
»Tun Sie, was Sie können, und ersparen Sie mir dieses Krisengerede.«
»Es gibt nicht viel, was ich tun kann. Gehe ich recht in der Annahme, dass die Wunde älter als acht Stunden ist?«
Mjønes nickt.
»Nun, dann kann ich nicht mehr nähen. Das Einzige, was ich tun kann, ist, die Wunde zu reinigen und offen zu halten, damit der Dreck austreten kann. Und ich kann Ihnen Antibiotika geben.«
»Hört sich gut an.«
Der Arzt stellt den Koffer auf den Boden und öffnet ihn.
Mjønes schwankt. »Kann ich damit reisen?«, fragt er und deutet mit dem Finger auf seine Schulter.
»Das würde ich in den nächsten Tagen wohlweislich unterlassen. Erst muss die Infektion unter Kontrolle sein.«
Er muss an den Safe bei sich zu Hause denken, in dem die Ampulle liegt. Die muss er holen, solange er noch in Norwegen ist. Die und alles andere, was ihn mit dem Mord an Tore Pulli in Verbindung bringen
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