Vergiss mein nicht!
herausgefunden habe, welche von beiden die richtige ist, muss ich sie öffnen. Dahinter sitzt Mrs Stockbridge und hat auf ihrem Tablet vermutlich schon die Zensurenrubrik aufgerufen. Die Vorstellung, wie sie gleich das fette F eintippen wird, hilft meiner Konzentration nicht gerade auf die Sprünge. Ich brauche eine gute Note in diesem Kurs, weil ich Gedankenübertragung verbockt habe. Ich frage mich, ob sie das F rot markieren wird, um meine Unfähigkeit zu unterstreichen. Ich würde es tun.
Stopp. Konzentrier dich .
Im Kopf gehe ich den Lehrstoff über Täuschungen durch. Unregelmäßigkeiten im Bild. Ich lasse meinen Blick zwischen beiden Türen hin- und herwandern. Sie sind identisch. Wellen, Bewegungen oder Verschwommenheit auf einer sonst festen Fläche. Keine. Fadenscheinige oder durchsichtige Stellen. Beide Türen sind in meinen Augen aus solidem Holz gemacht. Meine Zeit läuft ab. Dann sehe ich ihn, einen kleinen schwarzen Schmutzfleck in der Mitte der einen Tür. Ich lächle und gehe auf die andere Tür zu. Ich strecke meine Finger nach dem Handflächenscanner aus, aber meine Hand greift ins Leere. »Mist.«
Nachdem ich durch die richtige Tür gegangen bin, schnalzt Mrs Stockbridge mit der Zunge und schreibt etwas auf ihr Tablet. Ihre Haarspange soll wohl ihre krausen roten Haare bändigen, aber sie lässt mehrere Haarsträhnen merkwürdig abstehen. Ich frage mich, ob ich nicht versuchen würde, mich anderen gegenüber immer von meiner besten Seite zu zeigen, wenn ich eine Illusionistin wie sie wäre.
»Begründung?«
Ich beantworte beinahe meine eigene hypothetische Frage, halte aber den Mund, als mir einfällt, dass sie ja nicht meine Gedanken lesen kann. »Wie bitte?«
»Warum haben Sie die Tür auf der linken Seite gewählt?«
»Ach so. Auf der echten Tür war ein schwarzer Fleck. Ich dachte, das würde auf eine Täuschung hinweisen«, gebe ich zu.
»Manchmal entlarvt Vollkommenheit die Täuschung, Addie, nicht die Wahrheit«, sagt sie. Ich nicke und geselle mich zu den anderen, die die Aufgabe schon hinter sich haben.
Ohne es zu wollen, bahnt sich eine Erinnerung einen Weg in mein Bewusstsein, füllt es aus und katapultiert mich in die Vergangenheit zurück. Ich bin ein kleines Mädchen, fünf Jahre alt. Mein Vater macht mit mir ein Picknick in einem wunderschönen Park beim See. Nachdem ich ein paar Minuten an meinem Sandwich herumgeknabbert habe, lege ich mich wieder auf die Decke. Plötzlich erscheinen über mir Tausende von bunten Schmetterlingen. Sanft schweben sie herunter, drehen sich, kreisen wie fallende Blätter. Jeden Moment werden sie auf mir, um mich herum landen. Ich kann schon fast die sanfte Berührung ihrer Flügel auf meiner Haut spüren. Lächelnd strecke ich meine Hand aus.
»Addie«, sagt mein Dad, »sie sind nur eine Täuschung.«
Ich setze mich hin und ziehe die Augenbrauen zusammen. »Sind sie nicht. Ich kann sie sehen.« Sie kreisen zwischen meinem Dad und mir, lassen seine Silhouette verschwimmen.
Ein alter Mann geht an uns vorbei und lächelt. »Ein Geschenk für die kleine Dame«, sagt er. Mein Dad winkt ihm höflich zu. Als er mitsamt seinen Schmetterlingen verschwunden ist, nimmt mich mein Dad bei den Schultern und streckt seinen Zeigefinger aus. Ein einzelner Schmetterling sitzt anderthalb Meter von uns entfernt auf einer Blume. Seine schlichten weißen Flügel bewegen sich langsam auf und ab. »Der ist echt, Kleines. Ist er nicht hübsch?«
Ich verziehe meinen Mund zu einem Schmollen. »Der ist langweilig.«
Ein schrilles Lachen weckt mich aus meinen Erinnerungen. Ich werfe einen Blick über meine Schultern und entdecke ein paar Mädchen, die offensichtlich gerade gelästert haben. Ich funkle sie an. Bin ich die Einzige, die bei diesem bescheuerten Test durchgefallen ist?
Beim Mittagessen braucht Laila mich nur einmal anzusehen und sagt: »Was für eine Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?«
Wir sind auf dem Weg zur Freiluftbühne – unser Treffpunkt zum Essen – und ich gebe ein Grummeln von mir. »Ich bin heute beim Illusionstest durchgefallen.«
»Durchfallen ist doch total relativ.«
»Nein, ist es nicht. Entweder man besteht den Test oder man tut es nicht. Nichts daran ist relativ.«
Sie zuckt mit den Schultern. »Aber deine anderen hast du mit Auszeichnung bestanden, was es ausgleicht.« Sie setzt sich auf die Steinbühne und lässt ihre Füße baumeln. »Aus diesem Grund ist es also doch relativ.« Sie weist mit ihrem Kopf zur Seite.
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