Vergiss mein nicht!
Laila und ich Freundinnen gewesen – seit unserem ersten Tag im Kindergarten, an dem sie sich vor mich gestellt hat. Seit damals bin ich in der Schule nie alleine gewesen. Jetzt bin ich furchtbar einsam und das ist ein grässliches Gefühl. Anstatt mein Mittagessen allein vor Zeugen einzunehmen, kundschafte ich lieber die Bücherei aus.
Der Geruch nach Büchern, ein Gemisch aus Staub und Leder, empfängt mich, als ich durch die Tür komme. Ich lächle. An der Lincoln High besteht die Bücherei aus drei Reihen von Computern, von denen wir uns Informationen auf unsere Karten runterladen können. Ich beziehe alle meine Bücher aus dem einzigen verbliebenen Buchladen in der Stadt, der ohne mich jetzt wahrscheinlich Pleite machen wird. Aber der Buchladen ist nichts im Vergleich zu dem hier. Diese Bücherei streckt sich über zwei Stockwerke mit einer breiten Treppe, die nach oben ins zweite Geschoss führt. Fenster umgeben zu allen Seiten den oberen Bereich, der Boden ist mit Licht überflutet. Wäre ich alleine, würde ich meine Arme ausbreiten und mich im Kreis drehen. Stattdessen gehe ich die Treppe hoch und streiche im Vorübergehen mit meiner Hand über die Bücher.
Ich suche mir die Abteilung mit den Klassikern, und nachdem ich mich ein bisschen umgesehen habe, ziehe ich den Titel Eine Geschichte aus zwei Städten aus dem Regal. Gerade passend. Ich fange an zu lesen. Als mir langsam klar wird, dass Dickens »schlechteste aller Zeiten« sehr viel schlechter war als alles, was ich bisher durchgemacht habe, höre ich das Fußgetrappel von vielen Leuten im Eingangsbereich, der mit Fliesen ausgelegt ist.
Mist . Ich muss das Klingelzeichen am Ende der Mittagspause überhört haben. Offensichtlich findet heute in der Bibliothek eine Unterrichtsstunde statt. Ich ziehe meinen Stundenplan aus dem vorderen Fach meines Rucksacks und hoffe, dass dort ein anderes Fach steht als das, was aufgedruckt ist. Sport. Das kurze unschuldige Wort jagt mir einen Schauer über den Rücken. Niemand sollte zu Sport an einem Montag gezwungen werden. Ist morgen nicht ein viel besserer Tag, mit Sport anzufangen? Die Entscheidung, gleich am ersten Schultag zu schwänzen, löst ein stechendes Schuldgefühl in meinem Bauch aus. Aber weil ich weiß, dass ich mich mindestens die erste Woche mit meinem »Neue Schülerin«-Status entschuldigen kann, schlucke ich es herunter.
Ich ziehe mich tiefer zwischen die Regale zurück und bin mir sicher, dass mich hier niemand findet. Warum auch? Das sind die Klassiker. Es muss einer der am seltensten besuchten Bereiche einer Highschool-Bibliothek sein. Als dann Schritte zu hören sind, bin ich ehrlich verblüfft.
Ich schaue auf und sehe Trevor, der sich eingehend mit einer Buchreihe auf der linken Seite befasst. Er streicht mit den Fingern die Buchrücken entlang und dann bleibt er stehen und schiebt das Buch, das er in der Hand hält, zwischen zwei andere.
»Hi«, sage ich, als er sich umdreht.
Erschrocken zuckt er zusammen, bevor sich in seinem Gesicht volles Erkennen widerspiegelt. »Oh, hi Addison. Was machst du denn hier?«
»Allem Anschein nach Sport schwänzen.«
»Ich war überrascht, dich heute Morgen in Regierungskunde zu sehen. Ich dachte, du hättest gesagt, du gehst in die elfte Klasse.«
»Ich ... äh ...« Panik steigt in meiner Brust auf. Hat mein Dad mich in einen Collegevorkurs gesteckt? Was soll ich bloß sagen? Tja, mein Gehirn arbeitet mindestens zehnmal schneller als das eines Normalen, deswegen wollte mein Dad mich wohl fördern, so gut es eben ging . Selbst wenn ich das sagen dürfte, würde es wahrscheinlich nicht so gut ankommen.
»Hast du einen Test für den Kurs gemacht?«
»Ja!«, sage ich entschieden zu laut. »Ich meine, ja, hab ich.« In dem Versuch, das Thema zu wechseln, zeige ich auf das Buch, das er gerade zurückgestellt hat. »Was hast du denn gerade abgegeben?«
»Oh.« Er schaut auf den Rücken des Buches. » 1984, Orwell.«
Ich fand das Buch toll, aber ich mag es nicht, auf andere Einfluss nehmen, bevor sie eine Chance haben, ihre ehrliche Meinung loswerden zu können. »Hat es dir gefallen?«
Er lacht und lehnt sich mit der Schulter ans Bücherregal. Sein ganzes Auftreten, von seinem zwanglosen Lächeln bis hin zu seiner entspannten Körperhaltung, strahlt Gelassenheit aus. »Ich hab’s nicht gelesen. Keine Ahnung, wer sich so was antun würde.« Er zeigt auf die Bücher um sich herum. »Klassiker werden überhaupt nur dann ausgeliehen, wenn sie
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