Verkehrte Welt
waren auf dem Heimweg vom Einkaufen.
»Guck mal«, rief Hildegard, »da ist ein Zirkus auf dem Platz da, bauen die gerade auf oder ab?«
»Die bauen auf, Schatz«, gab Dolf zurück, ohne hinzusehen, denn als verantwortungsbewusster Fahrer wusste er natürlich, welche Folgen schon die kleinste Unachtsamkeit im Straßenverkehr haben kann: ein Kind, das plötzlich zwischen zwei parkenden Autos hervorspringt, weil sein Ball auf die Straße gerollt ist, oder ...
»Woher willst du das denn wissen, dass die aufbauen und nicht abbauen?«
»Weil sie gestern noch nicht da waren«, gab Dolf in diesem Tonfall zurück, von dem er hätte wissen können, dass er seine Frau rasend machte, wenn er sich dafür interessiert hätte. »Möchtest du, dass wir uns eine Vorstellung ansehen, dann besorge ich Karten.«
»Ja, dazu hätte ich Lust, wenn du mir versprichst, dass du mich in Ruhe gucken lässt und mir nicht wieder alles erklärst.«
»Wenn du mir nicht ununterbrochen Fragen stellen würdest, Hilde, bräuchte ich dir auch nichts zu erklären«, erwiderte Dolf, der gerade schwer an einem emotionalen Dilemma trug. Genoss er die eigene intellektuelle Überlegenheit, oder litt er mehr an der geistigen Insuffizienz seiner Partnerin? Schwer zu sagen. »Je nach Frage, Liebes, ist eine Antwort eben oft automatisch eine Erklärung.«
»Wenn ich dich nichts frage, sprichst du ja gar nicht mehr mit mir«, beklagte sich Hildegard in diesem Tonfall, der ihn das Steuerrad fester umgreifen ließ.
»Also möchtest du nun in den Zirkus oder nicht?«
»Ja sicher, sagte ich doch gerade, aber vorher habe ich noch eine Frage.«
In diesem Augenblick befahl das Navigationsgerät, in 400 Metern rechts abzubiegen.
»Warum hast du eigentlich ein Navi mit weiblicher Stimme gekauft?«
Dolf schaute auf das Display und imaginierte kurz einen Kettensägen-Massaker-Film mit seiner Frau in der weiblichen Opferrolle auf dem Bildschirm.
»Wenn du die Gebrauchsanweisung lesen würdest, könntest du ihn auf männliche Stimme umstellen.«
»Wo ist die denn?«, fragte Hildegard und kramte in der Ablage.
»Herrgottnochmal, rechts im Türfach, wo sie hingehört«, blaffte Dolf und langte mit der rechten Hand über den Schoß seiner Frau hinweg, um nach dem Heft zu greifen. In diesem Moment tat es einen mörderischen Schlag, die beiden Insassen wurden sich schmerzhaft der Tatsache bewusst, dass sie vorschriftsmäßig angeschnallt waren, und genossen einen Lidschlag später die begrenzte Aussicht, die ein Airbag nun mal bietet.
»Bist du einem reingefahren?«, ließ sich Hildegards relativ unbekümmert klingende Stimme vernehmen.
»Nein, Schatz, eine Zugmaschine mit einem Zirkuswagen dran hat mir die Vorfahrt genommen.«
»Du meinst uns, Dolf, wir sitzen beide im selben Auto.«
»Wie du meinst, Schatz«, stöhnte ihr Mann und schnallte sich ab, um auszusteigen.
In diesem Moment wurde die Beifahrertür geöffnet, ein Typ, der aussah wie der junge Johnny Depp mit Dreitagebart, fragte im schönsten Schweizer Tonfall: »Ich hoffe, Sie sind unverletzt, oder?«
»Ich glaube ja«, sagte Hildegard und ließ sich vorsichtig aus dem Auto helfen. »Alles noch dran«, stellte sie an sich heruntersehend fest und strahlte den jungen Mann an, als wäre das einzig und allein sein Verdienst.
»Da haben wir Glück gehabt, oder?«, lachte dieser erleichtert auf.
»Von wegen Glück«, keifte Dolf dazwischen, »der Schaden ist nicht unbeträchtlich, und ich hoffe, Sie sind versichert.«
»Selbstverständlich, guter Mann, aber das regeln wir gleich, ich will nur rasch nach den Tieren hinten im Wagen sehen.«
Dolf folgte ihm auf dem Fuße.
Ein »Ach du Kacke« entfuhr dem Zirkusmenschen, was durch den Schweizer Akzent natürlich eher komisch klang. Besorgt betrachtete er die stark blutende Platzwunde über dem rechten Auge des Pferdes.
»Ah, ein Lipizzaner, prächtiges Tier, neun Jahre alt, vermute ich mal, im besten Alter, ah, sehe schon, ein Wallach, wie schade.«
»Verstehen Sie etwas von Pferden?«
»Ich bin Tierarzt, aber den Pferden gehört meine besondere Liebe. Fahren Sie den Wagen auf den Zirkusplatz, ich komme nach und klammere die Wunde, ist gar kein Problem.«
»Ach, da bin ich aber erleichtert«, strahlte ihn der Mann an, »darf ich mich vorstellen, Ricardo Involtini, ich mache die Pferdedressurnummer.«
»Wie schön«, sagte Dolf, »ich werde mir ganz sicher eine Vorstellung anschauen, d. h., wenn Sie meine Hand irgendwann wieder
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