Stolz und Verlangen
1. Kapitel
London, 1818
Als Privatdetektiv war Jasper Bond schon zu den ungewöhnlichsten Orten zitiert worden, doch heute erstmalig in eine Kirche. Manche seiner Auftraggeber waren in den Elendsvierteln zu Hause, wo Jaspers Mitarbeiter häufig verkehrten. Andere residierten in Palästen. Dieser potenzielle Kunde nun schien sehr religiös zu sein, da er St. George als Ort für ihr Stelldichein bestimmt hatte. Jasper vermutete, die Kirche werde von seinem Klienten als sicherer Ort angesehen, was wiederum bedeutete, dass dieser sich unwohl dabei fühlte, einen Detektiv von zweifelhafter Moral zu engagieren. Jasper war das nur recht. Er würde wahrscheinlich gut bezahlt und auf Abstand gehalten werden: Das waren ihm die liebsten Aufträge.
Er stieg aus dem Landauer und blieb dann einen Moment stehen, um den eindrucksvollen Portikus und die korinthischen Säulen an der Kirchenfassade zu bewundern. Gedämpfter Gesang ertönte aus dem Inneren der Kirche, was ein angenehmer Kontrast zu den bellenden Rufen der Kutscher und dem lauten Hufgeklapper war. Mit seiner behandschuhten Hand umfasste er den Adlerkopf an der Spitze seines Spazierstocks, nahm den Hut ab und entließ seinen Kutscher mit einer Handbewegung.
Das heutige Treffen war von Mr. Thomas Lynd arrangiert worden, einem Mann, dem Jasper beruflich und privat uneingeschränkt vertraute, was nicht zuletzt daran lag, dass Lynd in dem Metier sein Mentor gewesen war. Jasper würde sich nie anmaßen, sich als moralischen Menschen zu bezeichnen, aber er handelte nach dem Moralkodex, den Lynd ihn gelehrt hatte – hilf denen, die es wirklich brauchen. Er erpresste kein Schutzgeld, wie es andere Privatdetektive taten. Er stahl nicht mit einer Hand Güter, um sie danach mit der anderen Hand gegen Lösegeld wieder herauszugeben. Nein, er war dazu da, um Verlorenes wiederzufinden und um jenen, die sich bedroht fühlten, Schutz zu gewähren. Das warf natürlich die Frage auf, warum Lynd diesen Auftrag an ihn weitergab. Da sie beide ähnliche Prinzipien hatten, war ein jeder so gut wie der andere.
Jasper hatte eine ausgeprägte Vorliebe für Rätsel und Geheimnisse und war daher viel zu neugierig auf Lynds Motive, um etwas anderes zu tun, als seiner Aufforderung Folge zu leisten. Obwohl dieser Auftrag es erforderte, dass er die Befragung persönlich durchführte, was er in der Regel nur selten tat. Er zog es vor, vertrauensvolle Mitarbeiter an die Front zu schicken und selbst im Hintergrund zu agieren, um die Anonymität zu wahren, die für seine weitreichenderen persönlichen Pläne erforderlich war.
Er erklomm die Stufen zum Kirchenportal, trat ein und hielt einen Moment inne, um die ihm entgegenklingende Musik auf sich wirken zu lassen. An der rechten Seite befand sich die mit einem Baldachin überdachte Kanzel, auf der linken Seite das zweigeteilte Lesepult. Die Kirchenbänke waren leer. Nur der Chor erfüllte den Raum, erhob die Stimme zu jubelndem Lobgesang.
Jasper zog seine Taschenuhr heraus und sah nach, wie spät es war. Er war auf die Minute pünktlich. Wie er festgestellt hatte, war es in seinem Beruf sehr nützlich, wenn man niemanden warten ließ. Er ging zu den Treppen, die zur rechten Empore hinaufführten, dem verabredeten Treffpunkt.
Als er auf dem Treppenabsatz ankam, blieb er stehen. Ihm fiel ein zerzauster weißer Haarschopf ins Auge, der an diesem würdevollen Ort beinahe grotesk wirkte. Ein hilflos überfordertes schwarzes Band reichte nicht aus, um die Masse an Haaren zu etwas anderem zu zähmen als zu einem schlampigen, schiefen Zopf. Während Jasper gebannt auf die Erscheinung starrte, kratzte sich der unglückselige Besitzer der schrecklichen Frisur am Kopf und schuf noch mehr Unordnung.
Jasper war derart fasziniert von der Monstrosität dieser Haarfülle, dass es einen Moment dauerte, bis er die zierliche Gestalt daneben bemerkte. Doch sobald er sie registrierte, war sein Interesse geweckt. Im Gegensatz zu ihrem Begleiter war die Frau mit schimmernden rotblonden Locken gesegnet, deren Farbe so exquisit und selten war, dass es Jasper den Atem verschlug. Der Mann und die Frau waren die einzigen Menschen auf der Empore, aber keiner von beiden strahlte diese angespannte Erwartung aus, wie sie bei Menschen typisch ist, die auf jemanden oder etwas warten. Stattdessen waren sie jeder für sich ganz auf den unten singenden Chor konzentriert.
Wo war die Person, die er treffen sollte?
Die Frau schien zu spüren, dass man sie beobachtete, denn sie wandte
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