Verlobung auf Italienisch
Wahrheit gesagt hätte. Dass sie sich in London einsam fühlte und ihn vermisste. Dass ihr Boss sie hasste und schon nach wenigen Tagen degradiert hatte. Offenbar war sie zu nett gewesen.
Evie seufzte. Vielleicht hatte sie sich nur zu verzweifelt nach Gesellschaft gesehnt. Aber war das ein Verbrechen? Als Empfangsdame in einem Hotel konnte man doch gar nicht freundlich genug sein. Jetzt als Zimmermädchen traf sie kaum noch Gäste. Sie hatte sich sogar schon dabei ertappt, wie sie Selbstgespräche führte.
Sieh den Tatsachen ins Auge. Du bist ein komischer Kauz.
Das waren Jeffs Worte gewesen. Frustriert stieg sie aus und ging zum Hintereingang des Luxushotels, in dem die Reichen und Berühmten dieser Welt abstiegen. Während sie noch überlegte, wo sie den Müllsack verstecken sollte, fuhr eine schwarze Limousine an ihr vorbei und spritzte Schneematsch auf ihre Strumpfhose und Schuhe.
„Hallo, Evie, du bist spät dran.“ Umgeben von einer Wolke aus Parfüm und Haarspray näherte sich ihr mit schnellen Schritten eine Kollegin. „Du hast schon die Einsatzbesprechung verpasst. Tina sagte, du müsstest gleich ins Penthouse. Morgen kommt der große Boss. Man munkelt, dass er jeden feuert, der ihm nicht passt. Sogar der schmierige Carlos ist nervös. Ich kann es ja kaum erwarten, Rio Zaccarelli persönlich zu begegnen. Er ist der attraktivste Mann, den ich je gesehen habe.“
Evie, die völlig durchgefroren war, musste niesen. „Du hast ihn doch noch nie gesehen.“
„Doch, auf Fotos. Wir nennen ihn den heißen Rio.“
„Für mich ist er der rücksichtslose Rio“, murmelte Evie.
Stirnrunzelnd betrachtete ihre Kollegin den Müllsack. „Seit wann bist du für den Abfall verantwortlich?“
„Ach, ich helfe gern. Ich bin eben vielseitig …“ Sie wollte nicht zugeben, dass sie praktisch ihr Zuhause dabeihatte. Tapfer lächelte Evie und folgte ihrer Arbeitskollegin durch die Glastür in das Gebäude, in dem sich eine ganz andere Welt erschloss.
Nachdem sie den Müllsack im Keller hinter einigen Rohren versteckt hatte, floh sie in die elegante Penthousesuite. Sie fühlte sich furchtbar elend und war zum ersten Mal erleichtert, dass sie nicht mehr am Empfang saß und ständig fröhlich sein musste. Am liebsten hätte sie sich irgendwo verkrochen, bis bessere Zeiten anbrachen.
Kaum hatte sie die großzügig geschnittene, luxuriös ausgestattete Penthousesuite betreten, entspannte sie sich. Sehnsüchtig sah sie sich um. Im Kamin brannte ein Feuer, und auf einem kostbaren Teppich standen zwei helle und sehr bequem wirkende Sofas. Durch die hohen Fensterfronten hatte man einen überwältigenden Blick auf den Hydepark und die eleganten Gebäude von Knightsbridge.
Irgendjemand hatte einen großen Tannenbaum neben dem Flügel aufgestellt, und daneben warteten mehrere Kartons mit Weihnachtsdekoration darauf, ausgepackt zu werden.
„So lebt also die andere Hälfte der Menschheit“, sagte sie leise zu sich selbst. Deprimiert machte sie sich an die Arbeit. Dabei versuchte sie nicht an die vergangenen Feste zu denken, an denen sie immer mit ihrem Großvater den Baum geschmückt hatte. Im letzten Jahr hatten sie wunderschöne Tage zusammen verlebt.
Nur wenige Wochen später hatte ihr Großvater einen leichten Schlaganfall erlitten, und ihr war nichts anderes übrig geblieben, als ihn in dem Seniorenheim unterzubringen. Um für die Kosten aufkommen zu können, hatten sie sein kleines Haus verkaufen müssen, und nun lebte sie in einer Großstadt, in der sie niemanden kannte.
Und sie wusste nicht, wo sie diese Nacht verbringen sollte. Diese Vorstellung jagte ihr Angst ein. Einen Moment lang erwog sie, Tina alles zu erzählen und zu fragen, ob sie ein freies Zimmer hätte. Doch Evie wusste schon, wie diese reagieren würde – sie würde ihr sagen, dass ihr Monatsgehalt nicht einmal für eine Übernachtung im preiswertesten Zimmer reichte.
Frohe Weihnachten, Evie.
Ohne Pause arbeitete sie. Nachdem sie den Baum geschmückt und Vasen mit Mistelzweigen aufgestellt hatte, fing sie an, das Penthouse sauber zu machen. Sie war erst halb fertig, als die Tür geöffnet wurde und Carlos, der Geschäftsführer, hereinkam.
Sofort verspannte sie sich. Sie war mit ihm allein und hatte ihr Handy nicht griffbereit.
Seit dem Tag, als er sie zu küssen versucht hatte, war sie ihm aus dem Weg gegangen. Hektisch überlegte sie nun, was sie tun sollte. Da er das Hotel leitete, war sie von ihm abhängig, was er ihr auch deutlich
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