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Verlorene Illusionen (German Edition)

Verlorene Illusionen (German Edition)

Titel: Verlorene Illusionen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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Die Vorstadt Houmeau wurde also eine reiche Industriestadt, ein zweites Angoulême, auf das die Oberstadt, in der die Regierung, der Bischofssitz, die Gerichte und die Aristokratie verblieben waren, eifersüchtig war. So war Houmeau trotz seiner tätigen und wachsenden Macht nur ein Anhängsel von Angoulême. Oben der Adel und die Behörden, unten der Handel und das Geld: zwei soziale Zonen, die einander allenthalben und ständig feindlich gegenüberstehen; auch ist es schwierig, zu sagen, welche von den beiden Städten die Nebenbuhlerin am meisten haßte. Die Restauration hatte seit neun Jahren diesen Stand der Dinge, der unter dem Kaiserreich ziemlich besänftigt gewesen war, verschlimmert. Die meisten Häuser des obern Angoulême sind entweder von Adelsfamilien oder von Patrizierfamilien bewohnt, die von ihren Einkünften leben und eine Art autochthone Nation bilden, in die Fremde nie zugelassen werden. Kaum wird eine Familie, die aus einer Nachbarprovinz gekommen ist, wenn sie zweihundert Jahre da gewohnt hat, etwa nach einer Verbindung mit einer der eingeborenen Familien, aufgenommen; diese Eingeborenen betrachten sie, als ob sie erst gestern ins Land gekommen wären. Die Präfekten, die Obersteuereinnehmer, die Verwaltungen, die einander seit vierzig Jahren gefolgt sind, haben versucht, diese alten Familien, die wie argwöhnische Raben auf ihrem Felsen hocken, zu humanisieren: die Familien haben ihre Feste und ihre Gastmähler angenommen, aber sie bei sich zu empfangen, haben sie hartnäckig abgelehnt. Diese Häuser, deren Glieder boshaft, klatschsüchtig, eifersüchtig und geizig sind, verheiraten sich untereinander und bilden ein geschlossenes Korps, um niemanden eintreten oder hinausgehen zu lassen; die Schöpfungen des modernen Luxus kennen sie nicht; ein Kind nach Paris schicken, bedeutet ihnen, es dem Verderben preisgeben zu wollen. Diese Vorsicht gibt ein Bild von den zurückgebliebenen Sitten und Gebräuchen dieser Familien, die in einem verständnislosen Royalismus stecken, die mehr frömmelnd als fromm sind und alle in Unbeweglichkeit verharren, wie ihre Stadt und ihr Felsen. Angoulême genießt jedoch in den benachbarten Provinzen einen großen Ruf wegen der Erziehung, die man dort erhält. Die benachbarten Städte schicken ihre Töchter dahin in die Pensionate und Klöster. Man kann sich leicht vorstellen, welchen Einfluß der Kastengeist auf die Gefühle hat, die Angoulême und Houmeau voneinander trennen. Der Kaufmannsstand ist reich, der Adel ist im allgemeinen arm. Einer rächt sich am andern mit einer Verachtung, die auf beiden Seiten gleich ist. Das Bürgertum von Angoulême macht diesen Streit zu seiner ganz besonderen Angelegenheit. Der Kaufmann der Oberstadt sagt von einem Handeltreibenden der Vorstadt mit einer unbeschreiblichen Betonung: »Einer aus Houmeau!« Die Restauration, die dem Adel in Frankreich wieder eine besondere Stellung geben wollte und ihm Hoffnungen machte, die ohne einen allgemeinen Umsturz nicht verwirklicht werden konnten, erweiterte die moralische Kluft, die noch mehr als die örtliche Entfernung Angoulême von Houmeau trennte. Die adlige Gesellschaft, die damals mit der Regierung eins war, wurde dort exklusiver als in jeder andern Stadt Frankreichs. Der Einwohner von Houmeau hatte schon Ähnlichkeit mit einem Paria. Daher kam der dumpfe und tiefe Haß, der den Aufstand von 1830 so schrecklich einmütig machte und die Elemente eines dauernden Gesellschaftszustandes in Frankreich zerstörte. Der Dünkel des Hofadels entfremdete dem Thron den Provinzadel, ebenso wie dieser das Bürgertum abstieß, indem er es in allen seinen Eitelkeiten kränkte. Einer aus Houmeau, der Sohn eines Apothekers, sollte bei Frau von Bargeton eingeführt werden? Das war schon eine kleine Revolution. Wer waren ihre Urheber? Lamartine und Victor Hugo, Casimir Delavigne und Canalis, Beranger und Chateaubriand, Villemain und M. Aignan, Soumet und Tissot, Etienne und Davrigny, Benjamin Constant und Lamennais, Cousin und Michaud, kurz, nicht minder die alten wie die jungen literarischen Berühmtheiten, die Liberalen wie die Royalisten. Frau von Bargeton liebte Künste und schöne Wissenschaften, das war für Angoulême ein extravaganter Geschmack, eine höchst beklagenswerte Manie, und es ist notwendig, sie zu rechtfertigen, indem wir das Leben dieser Frau skizzieren, die zur Berühmtheit geboren war, durch verhängnisvolle Umstände im Dunkel blieb und deren Einfluß das Schicksal Luciens

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