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Verlorene Illusionen (German Edition)

Verlorene Illusionen (German Edition)

Titel: Verlorene Illusionen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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Kühnheit seiner Kritik und die Leichtigkeit seines Urteils auf seine Schülerin, ohne daran zu denken, daß diese Eigenschaften, die einem Manne so notwendig sind, bei einer Frau, die zu dem bescheidenen Lose der Mutter bestimmt ist, zu Fehlern werden. Obwohl der Abbé seiner Schülerin unausgesetzt ans Herz legte, um so liebenswürdiger und bescheidener zu werden, je mehr ihr Wissen sich ausbreitete, bekam Fräulein von Nègrepelisse eine ausgezeichnete Meinung von sich selbst und eine starke Verachtung gegen die Menschheit. Da sie in ihrer Umgebung nur untergeordnete oder dienstfertige Menschen sah, eignete ihr der Hochmut der großen Dame, aber nicht die gefälligen Manieren einer solchen. In all ihrer Eitelkeit fühlte sie sich durch einen armen Abbé geschmeichelt, der in ihr sich selbst bewunderte, wie ein Autor sich in seinem Werk, und so hatte sie das Unglück, keinen Vergleichungspunkt zu finden, der ihr zu einem Urteil über sich selbst verholfen hätte. Der Mangel an Gesellschaft ist einer der größten Nachteile des Landlebens. Da man nicht genötigt ist, den anderen die kleinen Opfer zu bringen, die der Anstand und die Toilette erfordern, verliert man die Gewohnheit, sich anderer wegen Zwang aufzuerlegen. Alles in uns artet dann aus, die Form und der Geist. Da die Ideenfreiheit des Fräuleins von Nègrepelisse nicht durch den Verkehr in der Gesellschaft eingeschränkt wurde, ging sie in ihr Benehmen, in ihre Haltung und in ihren Blick über; sie hatte jene hochfahrende Miene, die im Anfang originell erscheint, die aber nur Abenteurerinnen gut steht. So mußte diese Erziehung, deren Härten sich in den höhern sozialen Schichten abgeschliffen hätten, sie in Angoulême, sobald ihre Anbeter aufhörten, Verirrungen zu vergöttern, die nur in der Jugend anmutig sind, lächerlich machen. Herr von Nègrepelisse seinerseits hätte alle Bücher seiner Tochter hergegeben, um einen kranken Ochsen zu retten, denn er war so geizig, daß er ihr über das Einkommen, auf das sie Anspruch hatte, nicht einen Heller bewilligt hätte, selbst wenn es sich darum gehandelt hätte, ihr die für ihre Ausbildung nötigste Kleinigkeit zu kaufen. Der Abbé starb im Jahre 1802, vor der Verheiratung seines lieben Kindes, die er ohne Frage widerraten hätte. Der alte Edelmann fand sich nach dem Tode des Abbé durch seine Tochter sehr behindert. Er fühlte sich zu schwach, um den Kampf aushalten zu können, der zwischen seinem Geiz und dem unabhängigen Geist seiner unbeschäftigten Tochter ausbrechen mußte. Wie alle jungen Mädchen, die von der gebahnten Straße, auf der die Frauen bleiben müssen, abgekommen sind, war Naïs mit ihrem Urteil über die Ehe fertig und kümmerte sich wenig ums Heiraten. Es war ihr widerwärtig, ihren Verstand und ihre Person den Männern ohne Wert und persönliche Größe unterzuordnen, die sie in ihrem zurückgezogenen Leben hatte kennen lernen können. Sie wollte befehlen und sollte gehorchen. Wenn ihr die Wahl gestellt worden wäre zwischen dem Gehorsam gegen plumpe Launen, der Unterwerfung unter einen Menschen ohne Verständnis für ihre Neigungen und der Flucht mit einem Geliebten, an dem sie Gefallen gefunden hätte, sie hätte nicht gezögert. Herr von Nègrepelisse war noch Edelmann genug, daß er eine unpassende Verbindung fürchtete. Wie viele Väter entschloß er sich, seine Tochter zu verheiraten, weniger um ihretwillen, als wegen seiner Bequemlichkeit. Sie sollte einen nicht allzu klugen Adligen oder Landmann haben, der nicht imstande wäre, ihm wegen der Mündelabrechnung, die er seiner Tochter ablegen mußte, Schwierigkeiten zu machen, dessen Kopf und Energie unbedeutend genug wären, daß Naïs ihr Leben nach ihrer Laune einrichten konnte, und der uneigennützig genug wäre, sie ohne Mitgift zu heiraten. Aber wie sollte man einen Schwiegersohn finden, der in gleicher Weise dem Vater und der Tochter gefiel? Ein solcher Mann war der Phönix der Schwiegersöhne. Nach diesen zwei Seiten hin machte sich Herr von Nègrepelisse daran, die Männer in der Provinz zu studieren, und Herr von Bargeton schien ihm der einzige zu sein, der seinem Programm entsprach. Herr von Bargeton, ein von den Liebschaften seiner Jugend recht mitgenommener Vierziger, war wegen seiner bemerkenswerten Geistesschwäche bekannt; aber er hatte noch genau so viel Verstand, um sein Vermögen zu verwalten, und so viel Benehmen, um sich in der Welt von Angoulême bewegen zu können, ohne sich unmöglich oder lächerlich zu

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