Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Verlorene Illusionen (German Edition)

Verlorene Illusionen (German Edition)

Titel: Verlorene Illusionen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
Vom Netzwerk:
Duodezband aus seiner Tasche. »Höre!«
    David las, wie die Dichter zu lesen verstehen, die Idylle von André de Chénier vor, die den Namen »Neère« führt, dann den »Jungen Kranken« und schließlich die Elegie über den Selbstmord die erste in antiken Metren und die beiden andern in Jamben.
    »Das ist also Andrè de Chénier!« rief Lucien wiederholt aus. »Es ist zum Verzweifeln«, wiederholte er zum drittenmal, als David, der zu erregt war, um weiterzulesen, ihm den Band überließ.
    »Ein Dichter, den ein Dichter wieder entdeckt hat!« sagte er beim Anblick der Unterschrift unter der Vorrede.
    »Als Chénier«, fing David wieder an, »diesen Band fertig hatte, hielt er ihn für unwert, veröffentlicht zu werden.«
    Lucien seinerseits las das epische Stück »Der Blinde« und mehrere Elegien. Als er zu dem Fragment kam: »Wenn sie glücklos sind, wo ist dann Glück auf Erden –« ließ er das Buch sinken, und die beiden Freunde weinten, denn beide waren leidenschaftlich verliebt. Wie von der Berührung einer Fee waren die Weinranken erglüht, die alten, rissigen, zerbeulten, kreuz und quer von häßlichen Sprüngen durchzogenen Mauern des Hauses waren wie mit Säulen, Gewölbbogen, Basreliefs und unzähligen Meisterwerken einer unbekannten Architektur geziert. Die Phantasie hatte ihre Blumen und ihre Rubine auf den kleinen dunklen Hof geschüttet. Die Kamilla André de Chéniers war für David seine angebetete Eva geworden und für Lucien eine große Dame, der er den Hof machte. In ihrem feierlich wallenden Sternengewand war die Poesie durch die Werkstatt geschritten, wo die Affen und die Bären mit ihren Grimassen hin und her huschten. Es schlug fünf Uhr, aber die beiden Freunde verspürten weder Hunger noch Durst; das Leben war ihnen ein goldener Traum, alle Schätze der Erde lagen zu ihren Füßen. Sie gewahrten ein blaues Stückchen Himmel, wie es die Hoffnung denen zeigt, deren Leben schwer und stürmisch ist und denen ihre Sirenenstimme zuruft: »Eilet, flieget, durch dieses Stückchen Silber oder Azur sollt ihr dem Elend entgehen.« In diesem Augenblick öffnete ein Lehrling namens Cérizet, ein Pariser Junge, den David hatte nach Angoulême kommen lassen, die kleine Glastür, die von der Werkstatt in den Hof führte, und zeigte die beiden Freunde einem Unbekannten, der grüßend näher trat.
    »Hier habe ich«, sagte er zu David und zog ein umfangreiches Heft aus der Tasche, »eine Denkschrift, die ich drucken lassen möchte. Möchten Sie kalkulieren, was sie kosten wird.«
    »Ich bedaure,« antwortete David, ohne das Heft anzusehen, »wir drucken keine so umfangreichen Manuskripte, Sie müssen sich an die Herren Cointet wenden.«
    »Wir haben aber doch eine sehr hübsche Schrift, die sich eignen könnte«, fiel Lucien ein und nahm das Manuskript in die Hand. »Sie müßten die Freundlichkeit haben, morgen wiederzukommen und uns Ihr Werk zur Berechnung der Druckkosten hier zu lassen.«
    »Habe ich nicht mit Herrn Lucien Chardon die Ehre?«
    »Jawohl«, antwortete der Faktor. »Ich bin glücklich,« sagte der Schriftsteller, »einen jungen Dichter kennen zu lernen, dem eine so schöne Zukunft bevorsteht. Ich bin von Frau von Bargeton geschickt.«
    Als Lucien diesen Namen hörte, errötete er und stammelte einige Worte, um seine Dankbarkeit für das Interesse auszudrücken, das ihm Frau von Bargeton entgegenbrachte. David bemerkte das Erröten und die Verlegenheit seines Freundes, den er die Unterhaltung mit dem Landedelmann weiterführen ließ. Der war der Verfasser einer Denkschrift über die Seidenwürmerzucht, der aus Eitelkeit gerne gedruckt sein wollte, um von seinen Kollegen von der Landwirtschaftsgesellschaft gelesen zu werden.
    »Wie, Lucien,« rief David aus, als der Herr gegangen war, »solltest du Frau von Bargeton lieben?«
    »Wahnsinnig!«
    »Aber ihr seid durch die Vorurteile der Gesellschaft mehr voneinander getrennt, als wenn sie in Peking lebte und du in Grönland.«
    »Der Wille zweier Liebenden überwindet alles«, sagte Lucien und senkte die Augen. »Du wirst uns vergessen«, erwiderte der schüchterne Liebhaber der schönen Eva. »Vielleicht habe ich dir im Gegenteil meine Geliebte geopfert«, rief Lucien. »Wieso?«
    »Trotz meiner Liebe, trotz der verschiedenen Interessen, die es ratsam machen, bei ihr zu verkehren, habe ich ihr gesagt, ich käme nie wieder, wenn nicht ein Mann, dessen Begabung größer ist als meine, dessen Zukunft ruhmvoll sein muß, wenn nicht mein Bruder

Weitere Kostenlose Bücher