Vermächtnis des Schweigens (German Edition)
ALLISON
Ich stehe auf, als ich Devin Kineally auf mich zukommen sehe. Sie trägt wie üblich ihren grauen Anzug, und die Absätze ihrer Pumps klackern auf dem gefliesten Boden. Ich atme tief ein und nehme meine kleine Tasche mit den wenigen Habseligkeiten in die Hand.
Devin ist hier, um mich zum Resozialisierungszentrum in Linden Falls zu bringen, zu dem ich vom Gericht verdonnert worden bin und wo ich mindestens die nächsten sechs Monate wohnen werde. Ich muss beweisen, dass ich mich um mich selbst kümmern, einem Job nachgehen und mich aus allem Ärger heraushalten kann. Nach fünf Jahren darf ich Cravenville endlich verlassen. Ich schaue hoffnungsvoll über Devins Schulter, halte Ausschau nach meinen Eltern, auch wenn ich weiß, dass sie nicht da sind. „Hallo, Allison“, begrüßt Devin mich warmherzig. „Bist du bereit, das hier hinter dir zu lassen?“
„Ja, das bin ich“, erwidere ich mit mehr Selbstvertrauen, als ich habe. Ich werde an einem Ort leben, an dem ich niemals zuvor war, und mit Menschen zu tun haben, die ich noch nie getroffen habe. Ich habe kein Geld, keine Arbeit, keine Freunde, und meine Familie verleugnet mich, doch ich bin bereit. Ich muss es sein.
Devin greift nach meiner Hand, drückt sie leicht und sieht mir direkt in die Augen. „Alles wird gut, weißt du?“
Ich schlucke schwer und nicke. Zum ersten Mal, seit ich zu zehn Jahren in Cravenville verurteilt worden bin, spüre ich Tränen hinter meinen Lidern brennen.
„Ich sage nicht, dass es einfach wird.“ Devin legt mir einen Arm um die Schultern, was für sie nicht leicht ist, weil ich sie um einige Zentimeter überrage. Sie ist zierlich, sanftmütig, aber zäh wie Leder, was eines der Dinge ist, die ich so an ihr liebe. Devin hat immer gesagt, dass sie ihr Bestes für mich geben wird, und das hat sie auch getan. Sie hat immer klargestellt, dass ich ihre Klientin bin, obwohl Mom und Dad ihre Rechnungen bezahlen. Sie ist die einzige Person, die meine Eltern in die Schranken weisenkann. Während unseres zweiten Treffens mit Devin (das erste fand statt, als ich im Krankenhaus war) saßen wir vier an einem Tisch in einem kleinen Konferenzraum im Gefängnis. Meine Mutter hat versucht, den Ton anzugeben. Sie wollte meine Verhaftung einfach nicht akzeptieren, dachte, dass es sich um einen großen Irrtum handele, wollte, dass ich vor Gericht gehe, auf „nicht schuldig“ plädiere und gegen die Anklage vorgehe, den Familiennamen der Glenns reinwasche.
„Hören Sie zu“, hatte Devin meiner Mutter ruhig, aber bestimmt erklärt. „Die Beweise gegen Allison sind überwältigend. Wenn wir vor Gericht gehen, besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass sie für viele Jahre ins Gefängnis muss, vielleicht sogar für immer.“
„Es kann sich nicht so zugetragen haben, wie die Polizei es behauptet.“ Meine Mutter war mindestens ebenso resolut wie Devin. „Wir müssen das richtigstellen. Allison wird nach Hause kommen, ihren Schulabschluss machen und aufs College gehen.“ Sie war verärgert, und ihre Hände zitterten.
Mein Vater, der sich ausnahmsweise einen Nachmittag von seinem Job als Finanzberater freigenommen hatte, stand plötzlich auf, wobei er ein Glas Wasser umstieß. „Wir haben Sie angeheuert, damit Sie Allison hier rausholen“, stieß er aufgebracht hervor. „Also tun Sie Ihren Job, verdammt noch mal!“
Ich habe mich ganz klein auf meinem Stuhl gemacht und erwartet, dass Devin das Gleiche tun würde.
Doch das tat sie nicht. Ganz ruhig legte sie die flachen Hände auf den Tisch, straffte sich, hob das Kinn und erwiderte: „Mein Job ist es, alle Informationen auszuwerten, alle Möglichkeiten zu bedenken und Allison dabei zu helfen, sich für die beste zu entscheiden.“
„Es gibt nur eine Möglichkeit.“ Mein Vater war sehr aufgebracht und fuchtelte mit dem ausgestreckten Zeigefinger vor Devins Gesicht herum. „Allison muss nach Hause kommen!“
„Richard“, ermahnte ihn da meine Mutter auf ihre gelassene, irritierende Art.
Devin zuckte nicht einmal mit der Wimper. „Wenn Sie den Finger nicht aus meinem Gesicht nehmen, bekommen Sie ihn vielleicht nicht wieder.“
Langsam ließ mein Vater die Hand sinken; seine breite Brust hob und senkte sich unter schnellen Atemzügen.
„Mein Job“, wiederholte Devin und sah meinem Vater direkt in die Augen, „ist es, die Beweise zu sichten und die beste Verteidigungsstrategie zu wählen. Der Staatsanwalt plant, Allison vom Jugendgericht zum Erwachsenengericht zu
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