Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vermächtnis des Schweigens (German Edition)

Vermächtnis des Schweigens (German Edition)

Titel: Vermächtnis des Schweigens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heather Gudenkauf
Vom Netzwerk:
überstellen und sie wegen Mordes anzuklagen. Sollten wir vor Gericht gehen, wird sie den Rest ihres Lebens hinter Gittern verbringen, das garantierte ich Ihnen.“
    Verzweifelt vergrub mein Vater das Gesicht in den Händen und fing an zu weinen. Meine Mutter schaute beschämt auf ihren Schoß.
    Obwohl Devin mich auf die Anhörung vorbereitet hatte und ich wusste, was mich erwartete, waren die einzigen Worte, die ich hörte, als ich vor dem Richter stand – einem Mann, der genauso aussah wie mein Physiklehrer –, zehn Jahre . Für mich klang das wie ein ganzes Leben. Ich würde mein letztes Jahr in der Highschool verpassen, die Volleyball-, Basketball-, Schwimm- und Fußballsaisons. Ich würde mein Stipendium für die University of Iowa verlieren, niemals mehr Anwältin werden können. Ich erinnere mich daran, über meine Schulter zu meinen Eltern geschaut zu haben. Tränen liefen mir über die Wangen. Meine Schwester war nicht zu der Anhörung gekommen.
    „Mom, bitte“, flehte ich, als der Gerichtsdiener mich wegführte. Sie starrte stur geradeaus. Auf ihrem Gesicht war keinerlei Regung zu erkennen. Mein Vater hatte seine Augen fest geschlossen. Er atmete in tiefen Zügen und rang um Fassung. Sie konnten mich nicht einmal ansehen. Ich wäre siebenundzwanzig Jahre alt, wenn ich wieder freikäme. In dem Moment fragte ich mich, ob sie mich vermissen würden oder das Mädchen, das ich für sie sein sollte. Da mein Fall anfangs dem Jugendgericht zugeteilt worden war, hatte mein Name nicht an die Presse weitergegebenwerden dürfen. Am gleichen Tag, an dem er dem Erwachsenengericht überstellt wurde, gab es südlich von Linden Falls eine große Flut. Hunderte von Häusern und Geschäften wurden zerstört. Es gab vier Tote. Dank dieser aufregenden Neuigkeiten und der Verbindungen meines Vaters konnte mein Name auch weiterhin aus der Presse herausgehalten werden. Unnötig, die Begeisterung meiner Eltern darüber zu erwähnen, dass der gute Name Glenn somit nicht völlig befleckt wurde.
    Ich folge Devin zu ihrem Auto, und zum ersten Mal seit fünf Jahren spüre ich die volle Kraft der Sonne, die nicht durch einen mit Stacheldraht bewehrten Maschendrahtzaun scheint. Es ist Ende August, die Luft ist schwer und heiß. Ich atme tief ein und merke, dass Gefängnisluft nicht wirklich anders riecht als die Luft in Freiheit. „Was willst du als Erstes tun?“, fragt Devin mich. Ich denke sorgfältig nach, bevor ich antworte. Ich weiß nicht, was ich fühlen soll, jetzt, wo ich Cravenville hinter mir lasse. Ich habe es vermisst, Auto zu fahren – ich hatte meinen Führerschein noch nicht mal ein Jahr, als ich verhaftet wurde. Endlich werde ich etwas Privatsphäre haben. Ich werde ins Badezimmer gehen können, eine Dusche nehmen, essen, ohne dass ein Dutzend Leute mir dabei zusieht. Und auch wenn ich in der Resozialisierungseinrichtung wohnen muss, werde ich doch endlich wieder frei sein.
    Es ist seltsam. Ich war fünf Jahre in Cravenville, da würde man doch denken, dass ich es kaum erwarten kann, dort rauszukommen. Aber so ist es nicht. Ich habe hier keine Freundschaften geschlossen, habe keine glücklichen Erinnerungen aus dieser Zeit, und doch habe ich etwas, das ich noch nie in meinem Leben hatte: Frieden. Und das ist ein seltenes, kostbares Gefühl. Wie kann ich in Frieden sein mit dem, was ich getan habe? Ich weiß es nicht, aber ich bin es.
    Als ich jünger war – bevor ich ins Gefängnis gekommen bin –, haben die Gedanken sich ständig in meinem Kopf gedreht. Die ganze Zeit über hörte ich eine innere Stimme, die mir zurief: Los, los, los. Meine Noten waren perfekt. Ich betrieb fünf Sportarten:Volleyball, Basketball, Leichtathletik, Schwimmen und Fußball. Meine Freundinnen fanden mich hübsch, ich war beliebt und niemals in irgendwelchen Ärger verwickelt. Aber unter der Oberfläche brodelte es gewaltig. Ich konnte nicht still sitzen, mich nicht ausruhen. Jeden Morgen bin ich um sechs Uhr aufgewacht, um mein Pensum zu laufen oder im Kraftraum der Schule Gewichte zu stemmen. Dann bin ich kurz unter die Dusche gesprungen und habe danach den Müsliriegel und die Banane gegessen, die ich in meinem Rucksack hatte, bevor ein ganzer Tag voller Unterricht begann. Nach der Schule hatte ich Training oder ein Spiel, dann ging ich nach Hause zum Abendessen mit meinen Eltern und Brynn, dann machte ich drei bis vier Stunden Hausaufgaben und lernte. Endlich, endlich, gegen Mitternacht versuchte ich zu schlafen. Aber in der Nacht

Weitere Kostenlose Bücher