Vermächtnis des Schweigens (German Edition)
und deshalb tun sie das auch. Und wir finden es wichtig, viel Zeit gemeinsam als Familie zu verbringen.“
Wenn meine Mutter so redete, verdrehte Allison immer nur die Augen, und ich hielt mir die Hand vor den Mund, um mein Grinsen zu verstecken. Wir verbrachten zwar viel Zeit gemeinsam als Familie – will heißen, wir befanden uns oft im gleichen Raum –, sprachen aber nie wirklich miteinander.
Allison war zwölf, als sie entschied, aus unserem gemeinsamen Zimmer in ein eigenes zu ziehen. Ich war am Boden zerstört. „Warum?“, fragte ich. „Warum willst du ein eigenes Zimmer?“
„Ich will es einfach“, gab sie zurück und drängte sich mit einem Arm voller Klamotten an mir vorbei.
„Du bist böse. Was hab ich getan?“ Ich folgte ihr in ihr neues Zimmer, das direkt neben dem lag, das wir uns geteilt hatten.
„Nichts, Brynn. Du hast nichts getan. Ich will nur etwas Privatsphäre“, erklärte sie, während sie die Kleidung in ihren neuen Schrank sortierte. „Ich bin doch gleich nebenan. Es ist nicht so, als würden wir uns nie wiedersehen. Meine Güte, Brynn, du fängst doch jetzt nicht etwa an zu weinen, oder?“
„Ich weine nicht“, erwiderte ich und blinzelte die Tränen fort.
„Dann komm und hilf mir, das Bett rüberzubringen.“ Siepackte mich am Arm und führte mich zurück in unser Zimmer. Mein Zimmer. Als wir die Matratze durch die Tür und über den Flur zogen und zerrten, wusste ich, dass es nie wieder so sein würde wie vorher. Ich sah zu, wie sie ihre Schul- und Sportmedaillen, Trophäen und Abzeichen in ihrem neuen Zimmer arrangierte, und merkte, dass wir uns nicht länger ähnlich waren. Allison war mehr und mehr mit ihren Freundinnen und außerschulischen Aktivitäten beschäftigt. Sie war gebeten worden, Mitglied eines sehr wettbewerbsorientierten Volleyballteams zu werden, das viel reiste. Beinah jede freie Minute verbrachte sie damit, zu trainieren, zu lernen oder zu lesen. Und alles, was ich wollte, war, mit Allison zusammen zu sein.
Meine Eltern hatten kein Mitleid mit mir. „Brynn“, sagte meine Mutter. „Werd erwachsen. Natürlich will Allison ein eigenes Zimmer haben. Es wäre seltsam, wenn dem nicht so wäre.“
Ich wusste immer, dass ich ein wenig anders war als die anderen Kinder, aber ich hatte mich nie als seltsam empfunden – bis meine Mutter diesen Satz sagte. Ich fing an, mich im Spiegel zu betrachten, um zu prüfen, ob man sehen konnte, dass ich anders war als die anderen. Meine braunen, lockigen Haare sprangen wild um meinen Kopf, wenn ich sie nicht mit der Bürste bändigte. Was von meinen Augenbrauen übrig geblieben war, bildete zwei kurze, dünne Kommata über meinen braunen Augen, die mir einen ständig fragenden Ausdruck verliehen. Meine Nase war durchschnittlich – nicht zu groß, nicht zu klein. Ich wusste, dass ich eines Tages sehr schöne Zähne haben würde, aber als ich elf war, waren sie in einer festen Zahnspange gefangen, die sie in Reih und Glied zwang – wie kleine, aufrechte Soldaten, die sich zum Appell meldeten. Abgesehen von meinen Augenbrauen fand ich nicht, dass ich komisch aussah. Ich entschied, dass es etwas in meinem Inneren sein musste, das so seltsam war. Ich schwor, diesen Teil von mir im Verborgenen zu halten. Ich blieb stets im Hintergrund, beobachtete, äußerte nie eine Meinung oder Idee. Nicht, dass mich jemals jemand darum gebeten hätte. Mit Allison in der Nähe war es einfach, nicht weiter aufzufallen.
In der ersten Nacht allein in meinem Zimmer weinte ich. Der Raum fühlte sich viel zu groß für eine Person an. Er sah nackt aus, nur mit meinem schmalen Bücherregal, einer Kommode und einigen verstreuten Stofftieren. Ich weinte, weil die Schwester, die ich liebte, mich offensichtlich nicht mehr um sich haben wollte. Einfach so hatte sie mich zurückgelassen.
Bis sie sechzehn war und mich endlich wieder brauchte.
Ich hätte an dem Abend gar nicht zu Hause sein sollen. Ich wollte mit Freunden ins Kino gehen – bis meine Mutter herausfand, dass Nathan Canfield auch dabei wäre. Davon wollte sie nichts wissen. Er war mal mit Alkohol oder so erwischt worden und nicht die Art Freund, mit der ich in Verbindung gebracht werden sollte, sagte sie. Also wurde mir verboten, an dem Abend auszugehen.
Ich frage mich oft, wie anders mein Leben verlaufen wäre – unser aller Leben –, wenn ich an dem Abend in irgendeinem Kinosaal gesessen und mit Nathan Canfield Popcorn gegessen hätte, anstatt zu Hause zu sein.
Ich weiß
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