Vermächtnis
kolonialen/postkolonialen Entwicklung vorgenommen werden, bezieht sich auf ein Dilemma, das für die Kulturanthropologie ebenso unausweichlich ist wie das Heisenberg’sche Unschärfeprinzip für die Physik. Letztlich besagt es: Jede physikalische Messung stört zwangsläufig das untersuchte System und bringt damit eine Unsicherheit darüber ins Spiel, wie der wahre Wert ausgesehen hätte, wenn das System nicht gestört worden wäre. (Insbesondere besagt das Prinzip in der Teilchenphysik, dass es unmöglich ist, Position und Geschwindigkeit eines Teilchens gleichzeitig genau zu messen.) Um das entsprechende Dilemma in der Kulturanthropologie richtig einschätzen zu können, sollten wir uns daran erinnern, dass die modernen anthropologischen Studien an den australischen Ureinwohnern erst im 20 . Jahrhundert begannen, und die ersten ethnographischen Berichte wurden im 19 . Jahrhundert noch vor dem Aufstieg der modernen, professionellen Anthropologie verfasst. Europäer waren aber bereits 1616 in Australien gelandet und hatten 1788 die ersten Siedlungen gegründet; Fischer aus dem indonesischen Makassar hatten Nordaustralien schon vor der Ankunft der ersten Europäer seit Jahrhunderten regelmäßig besucht, und nicht genau bekannte Austronesier aus Indonesien führten schon vor mehreren Jahrtausenden Hunde (Dingos) und möglicherweise andere Lebewesen und Technologien in Australien ein.
Gegenstand der modernen Studien an australischen Ureinwohnern waren also Gesellschaften, die sich im Vergleich zu ihrem Zustand vor dem Erstkontakt mit Europäern oder Fischern aus Makassar bereits tiefgreifend gewandelt hatten: Ein großer Teil der Bevölkerung war bereits durch die von Europäern und möglicherweise auch aus Makassar eingeschleppten Krankheiten ums Leben gekommen oder erobert worden und unterlag der Kontrolle einer europäisch-australischen Staatsregierung; diese verhinderte, dass die Landschaft auf traditionelle Weise mit Feuer bewirtschaftet (das heißt abgebrannt) wurde. Sie hatte die Ureinwohner von den besten Landflächen vertrieben, um darauf europäische Siedlungen zu bauen, und ihnen durch die Auswirkungen aus Europa eingeführter Katzen, Füchse, Schafe und Rinder sowie der Dingos aus Indonesien auf die einheimische Tier- und Pflanzenwelt einen Teil ihrer Lebensgrundlage geraubt. Ähnlich waren die Verhältnisse auch bei den !Kung in der Kalahari: Sie gelten häufig als Musterbeispiel für Jäger und Sammler, detailliert untersucht wurden sie aber erst seit den 1960 er Jahren, und die Studien, die ich in diesem Buch häufig zitiere, handeln von Menschen, die bereits die traditionellen Pfeilspitzen aus Knochen gegen Metallspitzen getauscht hatten, einander gegenseitig nicht mehr überfielen, mit den Bantu-Viehzüchtern Handel trieben und von ihnen unterwandert wurden, und in irgendeiner Form offenbar auch dem Einfluss anderer Bantu-Viehzüchter unterlagen, die bereits vor fast 2000 Jahren ins südliche Afrika eingewandert waren.
Allgemeiner gesagt, handelten alle Studien an Jägern und Sammlern aus dem 20 . Jahrhundert von Gesellschaften, die bereits tatsächlich oder potentiell Kontakt mit Lebensmittelproduzenten (Bauern und/oder Viehzüchter) hatten. Bis vor ungefähr 11 000 Jahren bestanden jedoch alle Gesellschaften aus Jägern und Sammlern, das heißt, sie kamen nur mit anderen Jägern und Sammlern in Berührung. Nur in wenigen Teilen der Welt, so in Australien, der Arktis und dem Westen Nordamerikas, trafen sogar die ersten nichtwissenschaftlichen Entdecker aus dem Westen auf Jäger und Sammler, die noch ausschließlich in einer Welt von Jägern und Sammlern lebten. Diese Tatsachen gaben den Ansatz zu hitzigen Diskussionen über die Bedeutung moderner Studien für Gesellschaften früherer Zeiten: Unterscheiden sich die modernen Jäger und Sammler so stark von denen der Vergangenheit, dass solche Untersuchungen ohne Bedeutung sind, wenn man sie verstehen will? Das ist sicher eine allzu extreme Auffassung. Oder, wie der Anthropologe Melvin Konner es ausdrückte: Könnte man heute eine Menschengruppe aus dem Westen nackt und ohne Werkzeuge irgendwo an einem einsamen Ort in der afrikanischen Savanne aussetzen, so wären sie innerhalb von zwei Generationen entweder alle tot, oder sie hätten unabhängig viele beobachtete Merkmale der Gesellschaften von Jägern und Sammlern wiederentdeckt. Zumindest aber muss man anerkennen, dass heutige traditionelle Völker keine eingefrorenen Abbilder der entfernten
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