Verrat in Paris
Sonntags-kleidung und hatte Blumen ins Haar geflochten. Und noch mehr Bilder, alle von dem schwarzhaarigen Mädchen: Mal trug es Anglerstiefel und stand fischend in einem Bach, mal winkte es aus einem Auto, mal hing es kletternd an einem Ast. Und zum Schluss – ein Hochzeitsfoto. Es war in der Mitte durchgerissen, der Ehemann fehlte, und nur die Braut war zu sehen.
Eine Ewigkeit starrte Beryl das Gesicht der Braut an, das Gesicht, das sie kannte – und das ihr so ähnelte. Sie berührte die lächelnden Lippen, die hochgesteckten Haarsträhnen der Frau auf dem Foto. Sie fragte sich, wie es für einen Mann sein musste, wenn er eine Frau so verzweifelt liebte und sie dann an einen anderen verlor. Die er so sehr liebte, dass er ihretwegen in ein anderes Land floh. Und dann tauchte sie ausgerechnet in derselben Stadt auf. Und er musste feststellen, dass sich seine Gefühle für sie auch nach fünfzehn Jahren nicht verändert hatten und dass es nichts gab, was seinen Schmerz lindern konnte … so lange sie lebte.
Beryl klappte das Album zu und ging zum Telefon. Sie wusste nicht, wie sie Richard erreichen konnte, also rief sie bei Daumier an. Dort sprang nur der Anrufbeantworter an, der sie mit geschäftsmäßig klingendem Französisch begrüßte.
Nach dem Signalton sagte sie: »Hallo Claude, hier Beryl. Ich muss Sie sofort sprechen. Ich glaube, ich habe neues Beweis-235
material gefunden. Bitte holen Sie mich ab! Sobald Sie …« Sie hielt plötzlich inne, ihre Hand mit dem Hörer erstarrte. Was war das für ein Klicken in der Leitung?
Sie lauschte angestrengt nach weiteren Geräuschen, hörte aber nur ihr eigenes Herzklopfen – und Stille. Sie legte auf. Der andere Apparat, dachte sie. Jemand hat am anderen Apparat mitgehört.
Schnell stand sie auf. Ich darf nicht hier bleiben, nicht in diesem Haus. Nicht unter einem Dach mit ihm. Nicht in dem Wissen, dass er es gewesen sein könnte.
Das Album an sich gepresst, lief sie aus der Bibliothek und durch die Eingangshalle. Nachdem sie die Alarmanlage ausgeschaltet hatte, verließ sie das Haus.
Die Nacht war kühl, der Himmel klar, und die Sterne funkelten mit den Lichtern der Stadt um die Wette. Sie ließ ihren Blick über den Hof schweifen und sah, dass die Eisentore geschlossen waren – und sicher auch abgeschlossen. Als leitender Bankangestellter in Paris gab Reggie ein attraktives Ziel für Verbrecher und Terroristen ab; wahrscheinlich hatte er das beste Sicherheitssystem, das es gab.
Ich muss von hier verschwinden, beschloss sie. Ohne dass es jemand mitbekommt.
Und was dann? Zur nächsten Polizeistation trampen? Zu Daumiers Wohnung? Egal, Hauptsache, nicht hier bleiben.
Sie sah sich um, suchte die hohe Mauer nach einer Tür oder einem Ausgang ab. Sie fand ein weiteres Tor, aber auch das war verschlossen. Es führt also kein Weg daran vorbei, dachte sie, ich muss über die Mauer klettern. Beryl entdeckte einen Apfelbaum, von dem ein Ast über die Mauer hing. Sie umklammerte das Fotoalbum mit einer Hand und kletterte auf den Baum. Es war nicht schwierig, von einem Ast zum nächsten zu klettern, doch bei jeder ihrer Bewegungen fielen ein paar Äpfel geräuschvoll herunter. Als sie auf der Mauer angekommen war, warf sie das 236
Fotoalbum auf die Straße und sprang hinterher. Dann schnappte sie sich das Album und lief auf die Straße.
Plötzlich blendete sie das grelle Licht einer Taschenlampe, und sie blieb stehen.
»Also kein Einbrecher«, hörte sie eine Stimme sagen. »Was um Himmels willen machst du da, Beryl?«
Blinzelnd konnte Beryl Helenas Silhouette ausmachen.
»Ich … Ich wollte einen Spaziergang machen. Aber das Tor war abgeschlossen.«
»Ich hätte dir doch aufgemacht.«
»Ich wollte dich nicht wecken.« Sie drehte sich um.
»Könntest du bitte die Taschenlampe in eine andere Richtung halten? Du blendest mich.«
Der Lichtstrahl senkte sich nach unten und verweilte auf dem Fotoalbum in Beryls Arm. Beryl presste das Album gegen ihre Brust. Sie hatte gehofft, Helena würde es nicht entdecken. Doch es war zu spät. Sie hatte es bereits gesehen.
»Wo war das?« fragte Helena leise. »Wo hast du das her?«
»Aus der Bibliothek«, sagte Beryl. Es hatte keinen Sinn zu lügen; schließlich hielt sie das Beweisstück in der Hand.
»All die Jahre«, murmelte Helena. »Er hat es also all die Jahre behalten. Dabei hatte er mir geschworen …«
»Was, Helena? Was hat er dir geschworen?«
Stille. »Dass er sie nicht mehr liebt«, kam die geflüsterte
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