Verrückt bleiben
Phase »Nichtwahrhabenwollen«, aber morgen fange ich mit »Zorn und Ärger« an. In der nächsten Woche wird plangemäß verhandelt, dann kommt die depressive Phase, dann die Zustimmung – und zack! Als es bei ihr selber so weit war, brüllte Kübler-Ross, sie krallte sich mit aller Kraft am Leben fest und machte alle Anfängerfehler, die sie in ihren Büchern aufgelistet hatte. Sie wollte nicht gehen. Manche lassen auch andere nicht gehen. Rilke schreibt in »Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge« darüber: »Oder in Neapel damals: da saß diese junge Person mir gegenüber in der elektrischen Bahn und starb. Das blasse dicke Mädchen hätte so, angelehnt an ihre Nachbarin, ruhig sterben können. Aber die Mutter gab das nicht zu. Sie bereitete ihr allemöglichen Schwierigkeiten. Sie brachte ihre Kleider in Unordnung und goss ihr etwas in den Mund, der nichts mehr behielt. (…) Schließlich holte sie aus und schlug mit aller Kraft in das dicke Gesicht, damit es nicht stürbe. Damals fürchtete ich mich.«
Gestorben wird immer, heißt es in »Six Feet Under«, einer preisgekrönten amerikanischen Bestatterserie. Die Frage ist: Wie? Manche haben Glück und sterben im Schlaf. Andere kriegen einen Tod, der zu ihrem Leben passt. Der Erfinder des Begriffs »Jogging« starb beim Joggen. Und der Mann, der die kleinste Mundharmonika der Welt spielte, starb, als er sein Instrument versehentlich aspirierte. Der Dokumentarfilmer Steve Irwin, der sich für gefährliche Tiere engagierte, starb am Stich eines Stachelrochens. Das deutsche Busenwunder »Sexy Cora« starb an einer Brust-OP. Und wir anderen?
Wer einen Organspenderausweis ausfüllt, befasst sich mit der Möglichkeit des Todes. Wer eine Patientenverfügung ausstellt, wer sein Testament macht, wer zu Lebzeiten seine Bestattung regelt, beugt sich der Übermacht des Todes. Er findet sich ab, sagen die einen. Er macht seinen Frieden mit der Möglichkeit des Todes, sagen die anderen. Aber wie soll er sterben? Vielleicht kann man das Sterben lernen, indem man anderen dabei zusieht?
2004 ging ich nach Kalkutta, als freiwillige Helferin in Mutter Teresas »Missionaries of Charity«. Ich tat es, weil ich nicht da gewesen war, als meine Großmütter starben. Ich würde nun fremder Enkelinnen Großmütter beistehen. Es war eine Mischung aus Wiedergutmachung und Neugier. Ich ließ mich einteilen für Nirmal Hriday, das Sterbehaus am Kalighat: gichtige hohläugige Menschen auf Pritschen, geschorene Köpfe auf krankenhausgrünen Kissen, glitschige Steinbecken, nach Desinfektionsmittel und Exkrementen stinkende Abflussrinnen. Ich fühlte mich gebraucht und übernahm die Morgenschicht bei den Frauen, sechsmal die Woche von 8 bis 12 Uhr. In den nächsten Wochen lernte ich, Todkranke zu füttern, sieHuckepack zu schleppen, zu waschen, umzukleiden und mit ihnen einige Brocken Bengali zu sprechen. Ich lernte, Geschirr und Wäsche per Hand in kaltem Wasser bestmöglich zu reinigen und auf gut Glück Medikamente zuzuordnen und auszuteilen.
Ich sah riesige von Fleischwunden weggefressene Kopfschwarten, im Feuer geschmolzene Häute, Wundmaden, Nekrosen, Tuberkulose im Endstadium, dampfenden Durchfall. Ich sah Menschen sterben, jeden Tag, Menschen, deren Namen ich nicht kannte, deren Sprache ich nicht verstand, deren Glauben ich nicht teilte, ich war ihnen körperlich nahe, aber ich konnte ihren Schmerz nicht lindern und – immerhin befanden wir uns in einem katholischen Haus – ihr Leiden nicht verkürzen. Ich habe damals viel über den Zusammenhang von Egoismus und Altruismus gelernt, über den wohligen Rausch, Gutes zu tun – ohne dass man wirklich etwas ändert. Den Tod zu fühlen und zu riechen heißt noch lange nicht, ihn zu begreifen. Über das Sterben habe ich in Kalkutta nichts gelernt.
2005 machte ich in Leipzig eine Ausbildung zur ehrenamtlichen Hospizbegleiterin. Einige Tage hospitierten wir auch auf einer Palliativstation. Man brachte mich in das Zimmer eines Krebspatienten, für den nichts mehr zu tun war. Er war austherapiert, er schien von den Lebenden vergessen worden zu sein. Seine Familie wollte im Todesfall benachrichtigt werden, aber bitte nach 9 Uhr morgens. Das fiel mir auf. Bitte erst nach 9. Der Sterbende hatte laut gerasselt und mit den Armen immer wieder ins Leere gegriffen. Ich rief die Ärztin. Der Mann schien entsetzlich zu leiden. Man musste doch etwas tun! Die Ärztin beruhigte mich. Das In-die-Luft-Greifen sei bei Sterbenden normal, ein Reflex.
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