Verrückt bleiben
Viele Schläuche und Kanülen steckten in seinem Körper. Sein Brustkorb pumpte. Der Puls am Hals zuckte wie wild. Sein Kopf stieß ruckartig in die Luft. Seine entzündeten Augen traten hervor, aus seinem Mund quoll gelblicher Schaum. Der ganze Mann klang wieeine riesige brodelnde Kaffeemaschine. Es gab Momente, da wollte ich selber sterben. Es gab Momente, da wollte ich schreien: »Stirb doch endlich!« Ich schrie aber nicht, sondern kühlte seine Stirn, hielt seine blaugeäderte Hand, streichelte seine eingefallenen Wangen und lauschte dem Gurgeln seiner Organe. Ich atmete mit ihm gemeinsam, wie ein mithechelnder Ehemann im Entbindungskurs, in der irrwitzigen Hoffnung, wenn ich immer langsamer atme, dann wird vielleicht auch er langsamer atmen, wird friedlicher werden, einschlafen können. Obwohl er in den folgenden Tagen mehrfach »Ich kann nicht mehr« flüsterte, obwohl es oft so aussah, als sei gleich alles vorbei, schien er am Leben festzuhalten. Erst am dritten Tag, nachmittags, atmete der Mann dreißig Sekunden nicht. Dann atmete er wieder. Dann atmete er wieder dreißig Sekunden nicht. Dann atmete er wieder. Dann atmete er eine Minute nicht. Er war jetzt ganz ruhig und sah nach oben, an die Zimmerdecke. Ganz unspektakulär. Sein Gesicht sah ein wenig schief aus und änderte die Farbe. Dann machte er einen Seufzer und war tot. Es war vollkommen klar, dass er tot war. Es war wie in Rilkes Gedicht: »Die Augen haben hinter ihren Lidern/Sich umgewandt und schauen jetzt hinein.« Das war ein Moment, der für immer bleibt. Der Tote im Bett, der Wind, der mit den Gardinen spielt, die Sonnenstrahlen, die in das Krankenzimmer hineinfallen, und die Tatsache, dass ich lebe, dass ich mitten im Leben stehe, in einem Leben, das für den Mann in dem Bett nun vorbei ist.
Will man so sterben? Soll man nicht aufhören, wenn es am schönsten ist?
Die mexikanische Schauspielerin Lupe Vélez, Exfrau des Tarzan-Darstellers Johnny Weißmüller, beschloss eines Tages, sich umzubringen. Wichtiger als der Tod selbst war es ihr jedoch, eine schöne Leiche zu sein. Sie dekorierte ihr Haus mit Blumen, zog ihr bestes Kleid an, ließ sich schminken und frisieren, nahm 75 Schlaftabletten und drapierte sich verführerisch aufs Bett. Dann aber wurde ihr schlecht. Sie torkelte insBad, um sich zu übergeben, rutschte aus und ersoff in der Kloschüssel.
Swetlana Geier, die Übersetzerin der fünf großen Dostojewski-Romane, der sogenannten »fünf Elefanten«, reiste fast 90-jährig im Zug von Deutschland in die Ukraine, 40 Stunden Zugfahrt, nur, um vor ihrem Tode noch einmal aus dem Brunnen ihrer Kindheit zu trinken. Am Arm ihrer Urenkelin schlitterte die Greisin durch ihre tiefverschneite ukrainische Heimatstadt, die sie 50 Jahre nicht gesehen hat. Sie suchte hier, suchte da, fragte Einwohner, fand aber den Brunnen ihrer Kindheit nicht mehr. »Macht nichts«, sagt sie, fährt wieder heim und stirbt ein Jahr später in ihrer Wahlheimat Freiburg.
»Heute ist ein guter Tag zu sterben«, sagt der alte Indianer in dem Film »Little Big Man«. Er steigt auf den Berg, breitet die Decke aus, legt sich hin, das schöne Profil gen Himmel gerichtet, und wartet auf seinen Tod. Dann fängt es an zu regnen, der festlich gekleidete Opa wird nass. Er blinzelt, räuspert sich, sagt: »Sometimes the magic works – sometimes it doesn’t«, steht auf und geht wieder nach Hause.
Trotz gelegentlicher Misserfolge ist dieser Ansatz richtig. Mein Tod gehört mir. Wenn ich Maude aus dem Film »Harold and Maude« wäre und ich wäre 79, dann würde ich an meinem 80. Geburtstag sterben wollen. Sie tut das, sie isst Torte, trinkt Champagner und schluckt in aller Heiterkeit Tabletten, die sie komplikationslos zu Tode bringen. Ein idealer Tod – ein Filmtod.
In seinem oscarprämierten Film »Das Meer in mir« erzählt Alejandro Amenábar 2004 die wahre Geschichte des galizischen Seemanns Ramón Sampedro, der sich im Alter von 25 Jahren bei einem Badeunfall das Genick bricht und vom Hals abwärts vollständig gelähmt ist. Sein Wunsch, in Würde zu sterben, wird von seiner Familie und anderen Menschen, die vorgeben, ihn zu lieben, ignoriert. Man will ihn mit Durchhalteparolen bei der Stange halten, man will ihm sein Schicksal schmackhaft machen, man will ihn nicht verlieren. Es istder Egoismus der Anderen, der ihn zwangsweise am Leben erhält. Erst, als er eine Freundin findet, die für ihn Zyankali in einem Glas Wasser auflöst und es ihm mit einem Trinkhalm
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