Verrückt bleiben
werde nicht an der Prosecco-Theke der Galeria Kaufhof vorbeigehen, ich werde dem Barmann zuzwinkern und ein Gläschen ordern, für den Blutdruck. Nach dem zweiten Glas wird sich alles nichtmehr so schlimm anfühlen, und nach dem dritten Glas beschließe ich, meine Pumps wegzuschmeißen, meinen Strähnchen-Termin beim Friseur abzusagen und ab sofort eine alte Frau zu sein, eins dieser hüstelnden Weiblein, über die ich mich früher so geärgert habe, weil sie mir ihre Gehhilfen in die Hacken schoben, eine Vögelscheuche. Der Atem fängt an zu pfeifen wie ein auf dem Herd vergessener Schnellkochtopf. Die Zähne fallen aus, die Haare fallen aus. Die Knochen brechen wie Salzstangen, die Neuronen feuern nicht mehr, aus meinen schlaffen Ohren werden Haare wachsen, die Haut wird mir in Zipfeln von den Ellenbogen hängen, Krampfadern werden mir um die Beine schlackern. Die Haut wird schlaff, die Hirnzellen sterben, die Augen sinken ein. Das Skelett tritt hervor. Warte nur, balde ruhest du auch. So wird das sein.
Stellen Sie sich mal die Zukunft vor. Wie werden die Straßen aussehen in zwanzig, dreißig Jahren? Ein einziges Geschlurfe! Wer selbst noch kein Greis ist, der fällt über einen. Es wird nur so von ihnen wimmeln. Kukident und Sütterlin, wohin man schaut. Die Alten werden die reinste Landplage sein, und ich mittendrin. Die überfüllten Wartezimmer werden säuerlich riechen, mit einem Hauch Urin, man wird nur Geröchel hören und das Klacken umfallender Krücken. Oder die Supermärkte. Seniorenheim-Belegschaften werden durchwackeln, schnaufend und ächzend, dement und inkontinent, mit verrutschten Perücken, mit schlabberigen Silberfötzchen, an Rollatoren, schwerfällig und schwerhörig. Sie werden sich am Wurststand zusammenrotten und ein Pläuschchen machen. Das Wetter. Die Preise. Die guten alten Zeiten. »Hä?« Sie werden sich detailliert beraten lassen, tatterig auf Würste zeigen und von jeder Sorte eine halbe Scheibe nehmen, aber nicht den Anschnitt. Keuchend werden sie sich an der Glastheke festhalten und unschöne Flecken hinterlassen. Und erst an der Kasse! Da werden sie zitternd 98 Cent abzählen, bis sie merken, dass sie leider keine 99 haben. Dann werden sie die Kupfermünzen wieder zurück in die Börse schuckern,natürlich fällt alles daneben. Bücken in Zeitlupe. Die künstliche Hüfte, das Rheuma, das Kreuz. Schlussendlich wird die Kassiererin selber nachschauen dürfen, aber dann hat die 90-jährige Kundin noch was vergessen.
»Hä?«
Tja, so wird es kommen, nicht wie im Kino, machen wir uns nix vor. Und trotzdem! Scheiß drauf! Ich bin noch da. Es ist mir egal, was die Jungen denken. Vom Schmunzeln kriegt man Runzeln. Lieber sauer riechen als sauer sein! Wir werden, wenn wir alt sind, den erbarmungslosen Blick auf unseren erbärmlichen Zustand ja gar nicht mehr haben. Wir werden viele sein, die Mehrheit sogar. Keine politische Entscheidung wird gegen uns fallen können. Wir werden mitmischen und man wird uns ertragen müssen. Wir werden Tabaksbeutel-Münder und Ziehharmonika-Hälse haben – und wir werden Krepp-Papier-Schilder hochhalten mit der Aufschrift: Falten – ja bitte!
24. Selbstbestimmt sterben
»Gut geschlafen und viel besser. Nahes Ende meiner Frau. Letzter fürchterlicher Kampf ihrer Natur. Sie verschied gegen Mittag. Leere und Todtenstille in und außer mir. Ankunft und festlicher Einzug der Prinzessin Ida und Bernhards. Hofr. Meyer. Riemer. Abends brillante Illumination der Stadt. Meine Frau um 12 Nachts ins Leichenhaus. Ich den ganzen Tag im Bett.«
Johann Wolfgang von Goethe,
Tagebucheintrag vom 6. Juni 1816
Nehmen wir an, ich würde Ihnen jetzt ein geschlossenes Kuvert über den Tisch schieben, in dem Ihr Todesdatum steht. Manchmal – nur der Planung halber – würde man schon gern einen Blick auf sein eigenes Lebenslicht werfen. Ist es nur noch ein Stummelchen oder ist erst Halbzeit? Oder lieber nicht? Würden Sie das Kuvert öffnen? Würden Sie es wissen wollen?
In »Gevatter Tod«, einem Märchen der Gebrüder Grimm, gibt es eine Höhle mit Tausenden von Lebenslichtern, manche klein, manche groß, und jedes gehört zu einem Menschen. Aber wer regelt das mit der Kerzenlänge? Der Zufall? Die Gene? Gott? Nach welchen Spielregeln läuft das? Und wenn es so weit ist und die Kerze zu flackern beginnt, was gilt dann?
Die Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross schrieb viele Bücher. Aber kann man nach Anleitung sterben? Kann man sagen, so, ich bin jetzt in der
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