Verrückt bleiben
falscher Tatsachen. Jemand sagt, ja, ich kann das, dabei kann er es gar nicht. Warum sagt er das? Weil er es unbedingt will. Manche machen es einfach, andere brauchen dazu einen Schubs. »Du kannst das doch, Musik?«, sagte Fassbinder. »Na ja«, sagte der musikalisch nicht sehr bewanderte Peer Raben – und wurde Filmkomponist.
Naseweisheit schließt Weisheit nicht aus. Gemessen wird der Bluffer am Ergebnis. Auch Maulhelden müssen sich irgendwann beweisen. Tarantino schrieb ein neues Kapitel der Filmgeschichte und fand obendrein eine Bühne für seine Neigung zu Fußfetischismus, Ninja-Kämpfen und G. W. Pabst. Kann das Leben schöner sein?
1996 begann ich, meine Geschichten an Verlage zu schicken. Ich hatte beschlossen, nichts zu erwarten. Erwartung produziert Enttäuschung, und Enttäuschung macht bitter. Ich kannte niemanden, niemand kannte mich. Es würde dauern. Vielleicht würde es nie klappen. Aber war Madonna damals nicht ohne jeden Plan nach New York gegangen und hatte einen Taxifahrer gebeten, sie »to the middle of everywhere« zu bringen?
Es hagelte Absagen, die ich in einem Ordner archivierte. Der Ordner füllte sich rasch, aber er war geräumig. Vielleicht war es verrückt, eine Schriftstellerin sein zu wollen. So what! Als der Zettel, auf dem ich mir alle Verlage notiert hatte, abgearbeitet war, begann ich wieder von vorn. In der ersten Runde hatte ich die Briefe nur an die Verlagsadressen geschickt, in der zweiten Runde adressierte ich sie an die Verlagsleiter, in der dritten Runde an Lektoren, deren Namen ich im Internet gefunden hatte.
Zwei Jahre vergingen. Ich hatte damals bereits sechs Jahre als Journalistin gearbeitet, war aber nun fest angestellt als Wetter-Moderatorin, erst bei n-tv, dann bei ProSieben und N24. Ein gut bezahlter Job, viel Platz im Kopf. Ich saß also nicht händeringend da und fieberte den Rückmeldungen entgegen, das war wichtig, diese Beiläufigkeit. Der erste Absage-Ordner war voll, ich legte einen neuen an. Meist waren es Standardtexte, die man mir schickte. Manchmal schickte man mein Material nicht zurück, weil ich kein frankiertes Rückkuvert beigelegt hatte. Ab und zu schien es, als habe sich jemand tatsächlich mit meinen Texten befasst, sei aber zu dem Schluss gekommen, dass sie, leider, aus wechselnden Gründen im Verlagsprogramm nicht unterzubringen seien. Manchmal endeten die Briefe mit Ermunterungsphrasen. Als wieder einmal Post von einem Verlag kam, riss ich mit einer gewissen Archivierungsroutine das Kuvert auf, nahm das Blatt Papier heraus, faltete es auf, lochte es und war bereits kurz davor, es abzuheften, als mir auffiel, dass es sich diesmal nicht um eine Absage handelte. Eine Lektorin ermunterte mich, es »doch einmal mit einer großen Form« zu versuchen. Ob ich nicht einen Roman schreiben wolle.
Ich hatte viele Romane gelesen, aber wie, zum Teufel, schrieb man einen? Es gab große Werke der Weltliteratur, berühmte und bewunderte Gegenwartsautoren, ja, es gab sogar Menschen, die die Schriftstellerei richtig studiert hatten. Wusste, konnte ich genug? Hatte ich zu hoch gepokert? Manchmal erkennt man die Weichen, vor denen man gestanden hat, erst in der Rückschau auf die eigene Biographie. Manchmal aber erkennt man die Chance sofort. Ich habe sie damals erkannt. Ich warf alle Bedenken über Bord. Ich verbannte all das »Was, den/das/die kennen Sie nicht?« – »Das tut man nicht!« – »Das nennt man nicht so.« – »Das ist out.« aus meinem Kopf. Ich brach den Kontakt zu Besserwissern, Ideentötern und Wind-aus-den-Segeln-Nehmern ab.
Ich wusste, dass Kolumbus nie Amerika entdeckt hätte,wenn er nach dem Weg gefragt hätte. Es war mir egal, was andere lesen wollten. Ich beschloss, das Buch zu schreiben, das ich selber gern lesen würde. Im Jahr 2000 erschien mein erster Roman »Ruf! Mich! An!«. Er wurde vom launenhaften Laserstrahl des Zeitgeists getroffen, von dem man vorher nie weiß, auf welches Thema er sich warum wie lange richtet. Er wurde besprochen, gekauft und gelesen. Kann das Leben schöner sein?
Manchmal sind die Dinge so einfach: Bildungskomplex über Bord werfen! Flucht nach vorn! Keine Skrupel! Opfern Sie Ihren Stil, falls Sie welchen haben, nicht der aktuellen Mode. Jonglieren Sie mit Ihren Defiziten, kultivieren Sie Ihre Defizite. Verlieren Sie Ihren Humor nicht, denn mit dem Humor verlieren Sie Ihre Souveränität – und die werden Sie noch brauchen! Einfach machen! Sich überwinden! Sich erproben! Die Grenzen austesten!
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